Letzte Haut - Roman
Schnaps dem Herren im feinen Zwirn an die Seite legen oder sie austrinken und verschwinden lassen sollten, aber am Ende war das Ergebnis doch einstimmig und ohne Enthaltungen.
Schmelz schnarchte, während die Fischer leise und rücksichtsvoll seinen Schnaps austranken und auf sein, ausschließlich auf sein Wohl anstießen. Sie zögerten Minute um Minute hinaus, in der sie die Kähne fangklar machen und aufs Meer fahren mussten. Eigentlich hatten sie doch schon einen Fisch am Haken, oder? Einen, der lauter gläserne Kinder bekam. Sie lachten unterdrückt auf, und jeder von ihnen beschloss insgeheim, sich diesen Witz zu merken.
Schmelz wachte auf, als der Mann, neben dem er geschnarcht hatte, ihn wegdrückte und aufstand. Verkatert verabschiedete er sich, man wünschte ihm wahrlich alles Glück dieser Welt, und während er dem Auslaufen der kleinen, wackligen Fischerboote zusah, jeden Handgriff der einfachen Männer bei ihrer ehrlichen Arbeit verfolgte, brach nach und nach die Erkenntnis über ihn zusammen: Er sollte sich erschießen gehen, sofort! Ertrinken ginge zur Not auch.
Schon stand er, schon ging er, wenn auch wankend, und irgendetwas trieb ihn zum Gerichtsgebäude, zog ihn zum Büro des Gerichtspräsidenten Schmeißer. War es Hoffnung? Könnte er eine Entschuldigung vorbringen und um seinen Verbleib am Gericht betteln? Er klopfte, und als er eintrat und die Tür schloss, sah er schon am versteinerten Gesicht des grauhaarigen Mannes, dass es für ihn hier keine Hoffnung mehr gab. Er nahm das vorläufige Entlassungsschreiben zur Kenntnis, hörte, dass der Disziplinarentscheid folgen werde, Schmeißer habe schon telefoniert, und er brach fast zusammen, als der Präsident ihm sagte, ‚Jedem das Seine!‘
Wohin?
Er saß auf dem Rinnstein, im kalten Schatten des hohen Mietshauses, und fragte sich, was tun an diesem ersten Tag des Monats April, in dem der Anführer der Deutschen den Flottenvertrag mit den Briten und den Freundschaftsvertrag mit den Polen kündigte? Was tun in diesem Monat, in dem das erste Teilstück der Ost-West-Autobahn feierlich übergeben und der fünfzigste Geburtstag des Anführers der Deutschen als nationaler Feiertag begangen wurde?
Wäre das nicht ein Thema für einen Schulaufsatz? Rührselig und als Zugabe einen Abriss über die Vergangenheit Pommerns? Denn wer wusste schon groß etwas über die Pommern? Mal ausgemalt, mal gerafft, doch immer das Ziel in den Augen behaltend? Die Frage sei nur, was für ein Ziel das sei, fragte der alte Schmelz sich unter Schmerzen auf dem Boden des Niemandslandes in seiner Wohnung. Für seine Überzeugung eingetreten zu sein, ach, rührselig, das war doch alles nur noch rührselig! Wie sollte ein Enkel stolz auf eine solche Tat seines Großvaters sein? Hatte er etwa das Leben des Rektors gerettet? Nein! Na also! Aus Eigennutz, er hatte im Grunde nur aus Eigennutz gehandelt, um sich selbst nicht in moralische Konflikte zu bringen. Er war doch nur den kurzen Weg gegangen, den geraden, was für eine Leistung war das denn schon? Der alte Kurt Schmelz drehte sich auf den Rücken, tastete in der Dunkelheit nach dem Stück Haut an der rechten Schulter, das noch unversehrt geblieben war, und riss daran.
Er schrie laut auf, hielt sich den Hautlappen vor die Augen und plötzlich blitzte die Erinnerung an ein Gespräch mit Pister in dessen Buchenwalder Arbeitszimmer auf. Nicht das Gespräch war es, es war dieser Schirm der Stehlampe, die in der Ecke stand, an den er sich erinnerte. Wie das Licht matt durch ihn gedrungen war und er aus der Ferne wie tätowiert gewirkt hatte. Ein Lampenschirm aus Haut? Die Tätowierung eines Segelschiffs, das von einer Seeschlange umkreist wurde? Er trat dichter an die Lampe heran, während Pister weiter redete, fuhr mit dem Finger über den Schirm, nein, es war kein Dreck! Kein Staub. Es war tatsächlich eine Tätowierung. ‚Schönes Stück‘, hörte er dann plötzlich Pister sagen: ‚Finden Sie nicht auch? Die stellen sie in der Gerberei her. Wir exportieren sie dann in neutrale Staaten und verdienen so noch etwas fürs Reich dazu. In afrikanischen Staaten werden sie besonders geschätzt, aber nur tätowierte, gut tätowierte und weiße. Na ja, schwarze Haut wäre ja für einen Lampenschirm auch bisschen blöde, was? – Die Idee ist von einem meiner Männer, und sie wird jetzt auch in allen anderen Lagern umgesetzt. Ich finde sie hübsch. Wirklich hübsch! Sie nicht?‘
Mein Großvater war geknickt, als er entlassen
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