Letzte Haut - Roman
worden war, wer wäre das nicht! Ganz klar.
Niemand weiß mehr zu sagen, wie lange er da in der Gosse von Stettin hockte, ob es Stunden waren oder Tage, aber schließlich stand er doch auf, schleppte sich in seine Wohnung und verließ sie eine ganze Woche lang nicht. Niemand weiß zu sagen, was er während dieser Zeit tat. Es wurde in unserer Familie immer wieder spekuliert, ob er sich die Haare gerauft habe, dass er vielleicht sein kurzes Leben Revue passieren habe lassen und mit dem Gedanken gespielt habe, vom Balkon zu springen, vom Eckbalkon auf den Boulevard! Mitten an einem Sonntag! Das wurde oft gemutmaßt, aber was er wirklich tat, weiß niemand zu sagen. Meine Vermutung ist, dass er bis zur totalen Erschöpfung Klavier gespielt hat. Rachmaninoff. Chopin. Auf keinen Fall Mozart.
Die Haushälterin stellte ihm das Essen vor die Wohnungstür, und am Ende der Woche kam sogar die Vermieterin, klopfte aber vergebens. Hingegen nicht vergeblich war der Besuch der Gestapo. Sie hielten sich nicht lange mit den Türen auf. Vier, fünf Handgriffe und sie waren offen. Sie überreichten meinem Großvater zwei Schreiben. Das eine war der Disziplinarentscheid aus dem Ministerium für Justiz, das andere war eine Aufforderung, für die Deutsche Arbeitsfront tätig zu werden. Die Anstellung begann mit sofortiger Wirkung und beinhaltete die Tätigkeit eines Rechtsberaters für die Belegschaft einer Werft. Mein Großvater musste noch am selben Tag anfangen, und ihm war sofort klar, dass dies nur ein Vorwand sei, damit er bald darauf im Sinne der politischen Überzeugung strafbar werde und weiter diszipliniert werden könne, denn die Deutsche Arbeitsfront war ja die Gewerkschaft, in der noch immer viele ehemalige Kommunisten organisiert waren.
Früher oder später würde einer der Fälle, die er dort bearbeiten müsste, ausreichen, um ihn einzusperren oder einzuziehen, glaubte er, denn die Kommunisten waren ja die Todfeinde der Nazis. Trotzdem aber stand er auf, zog sich an, rasierte sich und fuhr mit dem Fahrrad den weiten Weg in einen der Vororte Stettins, in dem sich die kleine Werft befand, während die britische Regierung am Monatsende die allgemeine Wehrpflicht wieder einführte.
Schon bald standen die Arbeiter Schlange vor seinem Büro. Sein Schicksal hatte sich herumgesprochen. Die Fischer, mit denen er getrunken hatte, erkannten ihn wieder, und deshalb vertrauten ihm die Werftarbeiter, die ihm ihre Anliegen vortrugen. Es waren so viele, dass er versuchte, sie zu bündeln und zu Sammelklagen zusammenzufassen, um mit so einer Mehrheit besseres Gehör bei den Gerichten zu finden, aber er hatte noch nicht eine einzige solcher Klagen verfasst, als er ein halbes Jahr später in die Waffen SS eingezogen wurde und auf dem Dänholm bei Stralsund eine Grundausbildung für den Krieg absolvierte. Es war der August neunzehnhundertneununddreißig, und schon einen Monat später – die Wehrmacht war in Polen einmarschiert, genauso wie die Rote Armee, Großbritannien und Frankreich hatten Deutschland daraufhin den Krieg erklärt – wurde Doktor Kurt Schmelz nach Posen versetzt, wo er Personalchef des Zweiten SS Regiments wurde, während die letzten polnischen Truppen am sechsten Oktober kapitulierten und der Anführer der Deutschen einen Erlass unterschrieb, der die Gewährung des Gnadentodes bei unheilbar Kranken ermöglichte: „Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Aerzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranke bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustands der Gnadentod gewaehrt werden kann.“ Somit waren zum einen die Voraussetzungen für den größten Massenmord der Geschichte abgeschlossen, denn niemand war jetzt mehr vor diesen Ärzten sicher, und zum anderen hatte mit der Eroberung Polens der Zweite Weltkrieg begonnen, während Doktor Kurt Schmelz auf Dienstreise Richtung Osten war.
Am sechsten Oktober neununddreißig, Polen war zwischen der Sowjetunion und Deutschland kurzerhand aufgeteilt worden, trat Kurt Schmelz seinen Dienst an. Zwei Tage später entstanden die neuen Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Posen auf dem ehemals polnischen Gebiet, und für meinen Großvater bedeutete dies, viel Arbeit in Posen zu haben, musste dort doch die ganze SS aufgebaut werden. Und er war ja einer der Personalchefs vom Reichsgau Posen!
Die Stadt selbst, die an der Warthe lag, kam ihm wie ein Kuhfladen vor, der mitten
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