Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
Bismarck einen Teil seiner Dienstzeit im Pommerschen Jägerbataillon verbracht. Hier hatte er gelernt, nach außen hin ruhig zu bleiben, den Fremdling abzulenken, und mit wenigen Gesten dafür zu sorgen, dass das Vieh in Sicherheit gebracht wurde. Und eines Tages wird das Orakel wahr werden, das da sagt, dass es Pommern sein werden, das eine Frau zum mächtigsten Manne des Landes machen werden. Zum mächtigsten Manne ganz Europas und ohne den Gebrauch auch nur einer einzigen Waffe. Denn die Erfahrung der Pommern, Europäer zu sein, werde einer kinderlosen Frau den Weg ebnen. So steht das Orakel von alters her, geschrieben an die Wände der Ruine von Eldena, die der Maler mit den drei Königsnamen auf einem Bild ins Riesengebirge versetzt hatte: Caspar David Friedrich, Erfinder der Romantik.
    Die Hüter des Orakels von Eldena waren also beim Einzug des Nationalsozialismus euphorisch gewesen. Das anerzogene Misstrauen Fremden gegenüber vergessend und felsenfest glaubend, die Zeit der Sühne wäre endlich vorbei, eine neue Heimat wäre gefunden, jubelten sie dem Anführer der NSDAP immer wieder zu. Und dieser Mann, er kam so gerne nach Pommern. Hier schrie er so gerne nach Böhmen, nach Danzig, nach Österreich. Hier fühlte er sich, nach der ganzen Welt schreiend, so gut verstanden.
    Die als missmutig bekannten Einwohner Stettins ließen an diesem ersten April neununddreißig die Mäntel sogar offen, ließen sie hinter sich her wehen, und es gab nicht wenige, die an Kreuzungen oder auf Plätzen tief durchatmeten und unwillkürlich mitten hinein in die Sonne lächelten. Ins strahlende Blau.
    Vor einem halben Monat war Prag besetzt worden, ganz Böhmen und Mähren gehörte fortan zu Deutschland, und erst vor einigen Tagen war Memel dem Reich angegliedert worden, und all das ohne einen einzigen Tropfen Blut; die Einwohner Stettins gingen an diesem ersten April neununddreißig freudestrahlend durch den sonnigen Tag.
    Spontan wurden Umwege in Kauf genommen, und ein Mann Ende zwanzig öffnete mitten auf dem Hauptplatz seine Uniform der SS, breitete die Arme aus, streckte Minuten lang das Gesicht ins wärmende Licht und sang das Lied: ‚Das schöne Leben / ich schenk’ es dir‘.
    Er sang solange aus voller Brust, bis ihm die verwunderten Blicke der anderen auffielen und ihm klar wurde, dass der Komponist des Liedes ein Jude gewesen war.
    Hastig schloss er die Uniformjacke, nahm mitten auf dem Platz Haltung an und zeigte für alle sichtbar den Hitlergruß. Applaus von den Pommern, während der neunundzwanzigjährige Kurt Schmelz im feuchten Schatten eines fünfstöckigen Hauses hockte und spürte, wie die Kälte der Wand ihm am Rücken entlang zum Nacken kroch.
    Zusammengekauert saß der Mann, der sechs Monate lang der jüngste Richter in Deutschland gewesen war, in einer Nische zwischen Kellerloch und Eingangstreppe, die höhnischen Worte des Landgerichtspräsidenten Schmeißers noch immer im Ohr: „Schmelz, Sie sind ein Narr, zwar ein junger Narr, aber ein Narr. Und ein Narr bleibt immer ein Narr. Mit fast dreißig habe ich schon eine ganze Menge mehr vom Leben verstanden als Sie heute! Aber so ist das mit den Überfliegern eben. Im Fachlichen ein Genie, im Gesellschaftlichen ein Trottel. Fachidiot! – Betrachten Sie sich, Doktor Schmelz als vom Richteramt enthoben; ‚Jedem das Seine‘!“
    Mit der Restwürde hatte Schmelz es noch aus dem Gerichtsgebäude geschafft, leicht wankend war er um die erstbeste Hausecke gegangen, doch dort war er dann zusammengebrochen, an der Hauswand hocken geblieben, das Gesicht in den Händen versteckend; Dreck, überall war der neue und teure Maßanzug mit Dreck beschmiert.
    Dort drüben schlenderten sie in der Sonne, dort, auf der anderen Straßenseite, er aber hockte hier und wischte sich langsam übers Gesicht. Was für ein Narr war er nur? Er begriff es noch immer nicht. Oder war es richtig gewesen? Warum war da kein Vater gewesen, der ihm einen Rat gegeben hätte? Er hatte allein entscheiden müssen, wie immer, aber hätte er es diesmal anders machen sollen? Dort drüben blieben sie vor Schaufenstern stehen, und hier saß er, entlassen wegen politischer Unzuverlässigkeit. Seit wann gab es so etwas überhaupt, verdammter Dreck! Ein Richter war doch souverän, er konnte doch gar nicht politisch verlässlich oder unverlässlich sein, er war doch nur dem Gesetz verpflichtet! Alleine dem Gesetz! Diese verdammten Nazis, diese braunen Schweine, pissten ihm an den Karren, ihm! Unrecht,

Weitere Kostenlose Bücher