Letzte Haut - Roman
mit den Füßen. Der Prozess drohte zu eskalieren. Schmelz wurde von den Jungen, die auch nicht vom Hauptrichter zu beruhigen waren, bedroht und beschimpft. Erst der schneidende Befehl des HJ Führers ließ die Kinder und Jugendlichen jäh verstummen. Nach einer Grundsatzrede über die Herrschaft des Rechts auch über der Politik, eine Herrschaft, die niemals gebrochen werden dürfe, und einem Eklat im Gerichtssaal verließ der aufstrebende und jäh gefallene neunundzwanzigjährige Richter Doktor Kurt Schmelz den Saal, um Schutz in seiner eben erst eingerichteten Wohnung zu suchen, die sich direkt am Boulevard befand.
Er ging sogleich an die Fensterfront des Salons der großen Wohnung, die er wegen des Blicks auf die sonntags über den Boulevard flanierenden Menschen mochte, öffnete die Balkontür und sah die jetzt leere Elisabethstraße hinunter und gleich darauf die ebenfalls verlassene Albrechtstraße herauf. Jäh drang der Schein der Gaslaternen durch die Finsternis und erhellte die Straßen. Schmelz bemerkte ein Ehepaar, das zu ihm hochsah. Von Hass erfüllt starrte er es an, bis die beiden weitergingen. Er umfasste die Brüstung des Eckbalkons mit beiden Händen und schrie über die Dächer Stettins ein langgezogenes: „Verdammt noch mal!“
Es klopfte, die Haushälterin kam zum Balkon und fragte, ob sie Tee servieren dürfe.
„Nein, Schnaps! Bringen Sie von diesem Kartoffelschnaps, den Ihr Mann angesetzt hat“, antwortete Schmelz, ohne sich umzudrehen.
Er kam in die Wohnung zurück, setzte sich in einen riesigen und neuen Ohrensessel und sah der Haushälterin apathisch zu, die still eine Flasche Schnaps auf den Esstisch stellte, zwei Gläser, eine Karaffe mit Wasser und eine Schale mit geschälten Zwiebeln.
Schmelz goss sich ein Wasserglas mit Schnaps ein, nachdem die alte Frau schweigend gegangen war, ging zur offenen Flügeltür und prostete seiner Bibliothek mit den juristischen Fachbüchern zu, was einer Grabrede gleichkomme, wie er kurz darauf erkannte.
Kurt Schmelz trank das Glas in einem Zug leer, wankte ein wenig, nahm die Utensilien fürs Trinken mit zum Sessel und ließ sich fallen. Immer noch unter Schock stehend, biss er in eine Zwiebel, füllte das Glas wieder mit Schnaps und trank es aus. Vergessen! Nichts als vergessen!
Nachdem er die Flasche Kartoffelschnaps ausgetrunken hatte, schlenderte er durchs nächtliche Stettin, urinierte auf dem Hitlerplatz in einen Springbrunnen, worauf er sich eine Schlägerei mit zwei SS Männern lieferte, torkelte am Rathaus vorbei und kam zur Grünen Schanze, ehe er sich am Bollwerk auf eine Bank fallenließ, die am Ufer der Oder stand.
„Na, Chef, ‚Wasser gucken‘, wie das Nachdenken bei uns heißt?“, fragte ihn ein Fischer, der sich mit einigem Gestöhne neben ihn auf die Bank setzte und über Schmelz’ aufgerissene Augen laut loslachte: „Brauchst nichts mehr, was, Junge? Hast schon entschieden, was? Und nun? Wird die Entscheidung bereut oder gefeiert?“
„Bereut.“
„Bereut also! – Guten Schnaps hast du da ja! Sieht gut aus. – Woher denn überhaupt?“
„Keine Ahnung. – Irgendwoher. – Irgendwo dahinten. – Hinter mir, liegt alles hinter mir.“
„Der muss jetzt gut durchwärmen, meine ich“, sagte der alte Fischer und gab sein schönstes Lächeln: „Bei dieser Nachtfäulnis.“
Schmelz nahm noch einen Schluck und gab die Flasche Richtenberger Doppelkorn weiter. Sofort griff der alte Mann zu, der so viele Falten im Gesicht wie weiße Haare im Bart hatte, und trank ordentlich einen Schluck weg. Andere Fischer hatten sich um die Bank geschart, und der alte Mann verkündete: „Mein junger Freund hier hat etwas zu bereuen, also helft ihm bereuen und steht ihm bei!“
Die Männer nickten, schuldbewusst und mit ernsten Blicken, schlugen Schmelz linkisch auf die Schulter und tranken die Flasche tiefsinnig und stumm aus, während ihm Tränen in die Augen stiegen.
„Ihr seid Freunde“, lallte er immer wieder: „Wahre Freunde! Männer sind Freunde.“
Es dämmerte schon, als er einigen der Fischer seine Geldbörse feierlich übergab und sie losschickte, neuen Schnaps zu besorgen, doch als sie zurückkamen, schnarchte er an der Schulter des alten Mannes mit dem weißen Bart, der leise murmelte: „Es gibt Fehler, und es gibt richtige Fehler. Es gibt Fehler, und es gibt richtige Fehler. Aber! Falsche Fehler gibt es nicht!“
Die Pommern wussten nun nicht, was zu machen sei. Sie beratschlagten zwar, ob sie die Flaschen
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