Letzte Haut - Roman
Prozent der Deutschen gewählt. Es erging am neunundzwanzigsten März ein Erlass, schulische Förderungen, Stipendien und Auszeichnungen seien den Angehörigen der Hitlerjugend vorbehalten, doch Kurt Schmelz betraf dies nicht mehr. Er meisterte sein Diplom mit Bravour, und nur zwei Jahre später machte er das große juristische Staatsexamen, und zwar so erfolgreich, dass mein Großvater sich das Gericht aussuchen konnte, an dem er arbeiten wollte. Angebote kamen von überall aus dem damaligen Reich, er entschied sich aber für die Hauptstadt der preußischen Provinz Pommern. Dort arbeitete er am Landgericht als Richter. Ein halbes Jahr lang. Am ersten April neununddreißig wurde er mit einem Disziplinarentscheid des Reichsjustizministeriums mit sofortiger Wirkung aus dem Justizdienst entlassen, während der Anführer der Deutschen an diesem Tag den britisch-deutschen Flottenvertrag und den deutschpolnischen Freundschaftsvertrag in einer Reichstagsrede aufkündigte.
Wie könnte so ein Schulaufsatz meines Enkels überschrieben sein, fragte sich der zweiundsiebzigjährige Schmelz auf dem Fußboden des Flurs seiner Wohnung, zu was führe so ein Aufsatz und was gehe als Erzählenswertes über das Erlebte hinaus?
Er hatte sich auf die Seite gewälzt, langsam und vorsichtig, weil nur an der rechten Schulter die Haut noch unverletzt war. Er spürte, wie die Wunden vom Dreck infiziert wurden, Doktor Kurt Schmelz sah es geradezu vor sich, wie sich der Wundbrand nach und nach über seinen Körper ausbreitete, doch noch immer machte er keinerlei Anstalten, aufzustehen. Er ließ die Augen geschlossen und malte sich weiter einen Enkel aus, einen an einem Schreibtisch einen Aufsatz schreibenden Enkel.
Den Aufsatz eines Enkels über dessen Großvater malte er sich aus, und selbstredend sei es ein männlicher Enkel. Und selbstredend sei er introvertiert, gestand Kurt Schmelz sich ein.
In der Mittagszeit jenes ersten Aprils neununddreißig, der national-spanische Heeresbericht gab offiziell das Ende des spanischen Bürgerkrieges bekannt, die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend wurde per Führererlass zum Ehrendienst am deutschen Volk erklärt und somit Pflicht für alle Jungen zwischen zehn und achtzehn Jahren, leuchtete der Himmel nach Monaten zum ersten Mal wieder blau. Und die Sonne, im Zenit stehend, stach den Pommern in den Augen, sobald sie ins Freie traten. Ein milder Westwind strich über die Odermündung, über die flache und weite Landschaft und über die preußische Provinzhauptstadt, aus deren Altstadtsilhouette sich das Schloss des schon seit Jahrhunderten ausgestorbenen Herzogsgeschlechts der Greifen majestätisch abhob.
Auf den Karten aus jener Zeit, in der die Landesfürsten hier noch regierten, sah das Herzogtum Pommern wie ein Schmetterling aus: Die breite Oder als kräftiger Leib, die Hauptstadt Stettin als verwegenes Haupt und Hintersowie Vorpommern als mächtige Flügel.
Sein Leben lang war dieser nun verstorbene Schmetterling namens Pommern getorkelt. Stets war er im Kreis geflogen, bis ihm dann im Dreißigjährigen Krieg die Flügel versengt und verbrannt wurden. Nie war er von der Stelle gekommen, denn sein rechter Flügel war fast dreimal so groß wie der linke. Sein Leben lang hatte er gekämpft, einmal war er sogar Mittelpunkt des Nordreiches gewesen, als die Dänenkönigin mit dem Pommernherzog einen ihrer Neffen zum Nachfolger bestimmte. Einige Jahre lang regierte der Pommer über ganz Skandinavien, und das war zu jener Zeit, als die Ostsee Mittelpunkt Europas und Europa das Zentrum der Welt war. Nur, reden wir nicht lange darüber, dieser Mann war damals noch keine achtzehn Jahre alt. Er war ein Trottel, der das Abenteuer liebte. Er ließ die Schiffe der Hanse ausrauben, ließ sich auf Gotland eine Burg erbauen, in der er Seeräubern Unterschlupf gewährte, wenn sie ihm einen Anteil abgaben, und schließlich wurde er vom Thron verjagt, dann auch aus Visby auf Gotland, und fortan lebte er bescheiden in seinem Herrenhaus in Rügenwalde, der Mann, der fast zehn Jahre lang der mächtigste des Ostseeraums gewesen war und der vom Regieren so gar keine Ahnung gehabt hatte.
Sein letzter Erbe war Bogislaw der Vierzehnte, der selbst keine Nachkommen hatte. Auch seine elf Geschwister hatten keine Nachkommen, so dass das Herzogsgeschlecht mit ihm im Jahre fünfzehnhundertsechsunddreißig ausstarb.
Sidonia von Borcke wurde als Hexe verbrannt, und auf dem Scheiterhaufen verfluchte sie das Greifengeschlecht. Es
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