Letzte Haut - Roman
auf einer bunten Wiese vor sich hin trocknete. Er fühlte sich viel zu weit weg von der Reichshauptstadt, in die er doch seiner Meinung nach gehörte! Dort waren doch jetzt alle großen Männer! Gründlich und wortkarg studierte er die Akten der Soldaten, Unteroffiziere und besonders die der Offiziere selbst. Ständig war er auf der Suche nach dem einen Fall, mit dem er Aufmerksamkeit erringen konnte, der ihn nach Berlin bringen konnte, mit dem er Wiedergutmachung erlangen konnte, denn noch hatte mein Großvater seine Karriere nicht aufgegeben. Er war gerade dreißig Jahre alt geworden, und ein Rückschritt, empfand er, sei noch lange kein Rückschlag! Schließlich hatte er nicht so lange studiert und den Buckel beim Arbeiten krumm gemacht, um jetzt klein beizugeben. Gut, er hatte sich dumm angestellt, er hätte die Kritik nie öffentlich und im Gerichtssaal äußern dürfen, gut, das war eine Erfahrung, aber das nächste Mal würde er dann eben ganz anders vorgehen. Subtiler. So hatte der vorsitzende Richter ja keine Wahl gehabt und hatte ihn des Saals verweisen müssen. Kritik, schärfte er sich ein, sollte niemals öffentlich gemacht werden, denn dann fiele sie immer auf den Kritiker selbst zurück. Der Kritisierte dagegen hätte dann gut lachen, und die Sache selbst fiele gar nicht mehr ins Gewicht.
Die Strafakten, die er durchforstete, behandelten aber leider nur kleinere Diebstähle der SS Leute, sowie Beleidigung, Unpünktlichkeit oder Vorteilsnahme, nichts aber, was mein Großvater nutzen konnte. Sein Aufgabengebiet waren Beförderungen, Belobigungen und Disziplinarmaßnahmen innerhalb des Regiments. Wie sollte er da an die großen Fälle herankommen? Die es auch hier geben musste, die es ja überall gab, die es ja immer gab und gegeben hatte. Seine Arbeit kam ihm unfruchtbar und eintönig vor. Er wurde immer verschlossener, kam nicht mehr aus seinem Kabuff heraus, das sich im Keller des Gebäudes befand, und grübelte, grübelte und grübelte, wie er aus dieser Dunkelheit wieder ins Licht steigen könne. Er wollte! Er musste! Der Ehrgeiz nagte an ihm.
Immer wieder hatte mein Großvater erzählt, wie ihn dann plötzlich die Erleuchtung heimgesucht habe. Es war kurz vor Feierabend, er hatte schon eine unangezündete Zigarette zwischen den Lippen, als er die Akten, die er durchgesehen hatte, auf verschiedene Stapel legte. Plötzlich hielt er inne, starrte auf den Schreibtisch, sah hoch zum Kellerfenster, blickte wieder auf den Tisch und grinste breit übers ganze Gesicht. Erst langsam, dann immer hektischer sortierte er die Akten neu. Am Ende lagen links drei kleine Haufen, in denen es um Unpünktlichkeit, Diebstahl und Beleidigung ging, auf der anderen Seite aber lag ein Berg von Akten, der ungefähr einen halben Meter hoch war: Vorteilsnahme! Vorteilsnahme oder mit anderem Wort: Unterschlagung. Unterschlagung oder mit einem noch anderen Wort: Korruption! Also: Wehrkraftzersetzung! Also: Hochverrat!
Er stürmte in die Toilette, ließ sich eiskaltes Wasser über die Handgelenke laufen, blickte in den Spiegel, sah einen hämisch grinsenden Typ, dem er Wasser ins Gesicht warf. Und dieser Typ erkannte blitzschnell, Unterschlagung könne niemals politisch motiviert oder gar befohlen sein. Korruption sei sowohl juristisch als auch politisch verwerflich und werde von jedem Staat hart bestraft. Monarchie, Demokratie, Diktatur, Stadtstaat, Korruption sei der Weg, auf dem auch ein Doktor Kurt Schmelz aus seiner Misere herauskam! Ganz klar. Vorteilnahme Anderer war die Nische, in der er überleben konnte! Ganz klar! Er hatte seinen Weg gefunden.
Doktor Kurt Schmelz spezialisierte sich also und wurde einer der wenigen Korruptionsjäger im Dritten Reich. Wenn sie ihn als Feind wollten, bitte schön! Dann ermittelte er aber auch nicht nur gegen einige von ihnen! Dann wollte er die ganze SS einer Prüfung unterziehen. Nutze die Schwächen der Anderen, dachte er freudestrahlend, und du wirst unbesiegbar sein wie ein Samurai, der in der Finsternis kämpft.
Sofort begann er, die aussortierten Unterlagen konsequent nach den Paragraphen zweihundertsechsundvierzig bis zweihundertsechsundsechzig zur Verhütung von Unterschlagungen zu bearbeiten. Jeden Verstoß nahm er auf, arbeitete Statistiken aus, absolvierte Unmengen von Überstunden, war für niemanden zu sprechen, verfolgte jeden noch so kleinen Korruptionsverdacht, archivierte ihn auch dann, wenn er sich als unbegründet herausstellte, denn der werfe bekanntlich den
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