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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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meinten, noch nie habe jemand so gut geschossen, der noch nie auf dem Bock gesessen habe. Er sei ein Talent! Er sei ein Wahnsinniger! Ihm könne man trauen, durch und durch.
    Sturmmann Schmelz winkte stumm ab, konzentrierte sich ganz auf das Auseinandernehmen des Kolbens, auf das Einfetten der Einzelteile und auf das Durchstoßen des heißen Laufs mittels der rundförmigen Drahtbürste Marke Elster. Er pustete, wo sich Grate festgesetzt hatten, während der Regen sich nun in einen Sturzbach zu verwandeln schien. Die Finger wurden schnell rot und steif, er konnte den Drahtgriff der Bürste nur mit den Handballen beider Hände halten, indem er sie aneinander presste, doch was kümmerte ihn das alles, solange er die Lippen pfeifend bewegen konnte! „Lili Marleen“, waren das die Takte von „Lili Marleen“? Woher sollte er dieses Lied kennen? Sturmmann Schmelz winkte ab, pfiff nur noch lauter das Lied von der Laterne und fühlte sich wie befreit.
    Die ganze Zeit arbeitete er mit dem Rücken zum Wasser, während der Dnepr Tausende von Leichen ins Schwarze Meer transportierte. Immer wieder verdickte sich der Strom der Toten, wenn er sich gerade verdünnt hatte und es schien, als versiege er. Rottenführer Grass stand fasziniert auf einer kleinen Anhöhe und nahm rauchend die Parade der Toten ab. Sie stapelten sich, wenn einer von ihnen sich in einem hängenden Ast verfangen hatte oder zwischen zwei Steinbrocken hängengeblieben war, doch irgendwann spülte der starke Dnepr auch die verkeilteste Leiche fort. Rottenführer Grass fragte sich stumm, warum die Sowjets nicht noch eine Welle schickten. Jetzt könnten sie auf ihren Toten übersetzen und hätte vermutlich sogar Erfolg damit. Hatten diese Untermenschen da drüben etwa soviel Moral? Soviel Anstand? Soviel Erziehung? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er drückte die Kippe an der Seite der Stiefelsohle aus und nickte, als der Mexikaner, der zu ihm gekommen war, in Brockendeutsch meinte, für heute sei es überstanden.
    „Für heute ja, aber ab morgen kommen sie bestimmt mit Panzern, mit ihren bestialischen T vierunddreißig! Und wenn unsere P vier dann nicht hier sind, dann zerfleischt uns der russische Bär zum Frühstück. Wir sind die Wölfe, und der Wolf ist das einzige Tier, das einen Bären niedermachen kann, aber nur im Rudel! Nur im Rudel! Merk dir das, du Chilifresser“, sagte Rottenführer Grass gutgelaunt: „Nur im verdammten Rudel.“
    „Rudel, was ist das, Rudel?“, fragte der Mexikaner, und Rottenführer Grass musste sich sehr zusammennehmen, um nicht loszubrüllen. Gott, wie er es hasste, wenn dieses ganze Gesocks die einfachsten Wörter nicht verstand! Wann kam er endlich raus aus diesem Söldnerhaufen! Das war doch nichts! Wie sollte denn einer wie er, der die deutsche Sprache so liebte, da ruhig bleiben? Rottenführer Grass atmete erst einmal durch.
    „Rudel“, sagte er, packte den Mexikaner am Nacken, riss dessen Schädel dicht zum eigenen Kopf und flüsterte mit mühsam beherrschter Stimme: „Rudel! Ru! Del! Rudel!“
    Der Mexikaner, gefangen im eisernen Griff seines Vorgesetzten, nickte so gut er konnte und wiederholte, ohne die Bedeutung des Wortes zu kennen: „Rudel.“
    „Genau, du Arsch, Rudel!“, sagte Rottenführer Grass und ließ von seinem Untergebenen ab. Er stieß ihn den Abhang hinunter und steckte sich noch eine der billigen Zigaretten an, die eigentlich, wenn er es genau nahm, die Bezeichnung Zigaretten gar nicht verdienten. Pfeife, sollte er jemals aus diesem Krieg zurückkommen, er würde das Pfeifenrauchen anfangen und stets nur den besten Tabak verwenden. Soviel war sicher!
    Drei Wochen kämpfte Rottenführer Grass mit seiner Einheit noch am Brückenkopf Dnjepropetrowsk, bevor sie endlich von Panzern abgelöst wurden. Und britische Luftangriffe auf Berlin, erste Massenvergasungen in Auschwitz, Geiselerschießungen in Paris, die Japaner mussten an die Bündnistreue erinnert werden, U sechshundertzweiundfünfzig torpedierte den Zerstörer Greer nördlich Islands, die US Flotte erhielt Schießbefehl, Leningrad lag unter Fernbeschuss deutscher Artillerie, die Wolgadeutschen wurden nach Sibirien deportiert, Leningrad wurde eingeschlossen, Kiew erobert, deutsche Truppen erreichten das Asowische Meer, Stillstand an der Eismeerfront, und in Frankreich, Serbien, Norwegen und Kroatien wurden verstärkt Partisanen aktiv, und Rottenführer Grass verlor in diesen drei Wochen im September bis auf diesen

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