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Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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befand er sich hier. Egal, meinte er, die Politik ändere sich täglich, die Justiz aber nicht. Niemals! Die Gewaltentrennung müsse wieder durchgesetzt werden. Was Recht sei, müsse Recht bleiben, unabhängig vom Ansehen der Person, meinte er, doch vorerst wollte er sich nicht darum kümmern, vorerst wollte er sich nur darum scheren, am Leben zu bleiben und nicht allzu viel auf Parolen zu geben.
    Seine Zeit als Austauschschüler in Frankreich vor der Machtergreifung der Nazis, seine Studienaufenthalte in Rom und Den Haag und sein Englisch kamen ihm jetzt sehr zugute. Er wurde schnell zu einem der Mittelpunkte, über die hinweg sich die Kameraden verständigten. Sturmmann Schmelz wurde in dieser Einheit der Division Wiking unentbehrlich.
    In den ersten Tagen nach seiner Ankunft, in denen gerade keine Kriegshandlungen stattfanden, freundete er sich mit den Männern seiner Einheit an, denn das taten doch Menschen, wenn sie Männer waren: Sie schlossen Freundschaften und nahmen Geschäftsbeziehungen auf, sobald sie sich sicher waren, sich vertrauen zu können.
    „Weißt du, was die häufigste Todesursache unter Bibern ist?“, fragte ihn am zweiten Tag ein Mexikaner in gebrochenem Englisch. Es war kurz vor dem Morgengrauen, sie hielten Tassen mit heißem Tee in den Händen und verbrannten sich die Finger.
    „Nein“, sagte Sturmmann Schmelz: „Keine Ahnung.“
    „Umstürzende Baumstämme! – Kein Witz!“
    Die Männer lachten auf eine abfällige, kriegerische Art, und niemand von ihnen bezweifelte, dass es wahr war, was der Mexikaner gerade gesagt hatte. Sturmmann Schmelz musste es ins Französische übersetzen, woraufhin ein junger Mann aus der Nähe von Bordeaux unbedingt einen Witz loswerden wollte: „Ich glaube, meine Frau ist tot! – Wieso glaubst du das, wie kommst du darauf, entweder, du weißt es oder du weißt es nicht, entweder, sie ist tot oder sie ist nicht tot! – Na ja, der Sex ist wie immer, aber das Geschirr stapelt sich!“
    Der schweigsame Finne, der sich das Gesicht hatte zuwachsen lassen, sammelte die Metallbecher ein und spülte sie in dem kleinen Erdloch aus, das sie ausgehoben und mit Tannenzweigen ausgelegt hatten, um darin Regenwasser aufzufangen. Es galt ihnen als Abwaschbecken und war weit genug vom Latrinenloch entfernt, um sich nicht mit ihm durchs Grundwasser vermischen zu können.
    Der schweigsame Finne meinte, heute werde der Russe angreifen, er habe es im Urin, heute werde es Russenragout geben.
    „Sag nicht immer Russe! Ich bin selbst ein Russe! Sag Sowjets! Das da drüben sind keine Russen, das sind nur verdammte Schmarotzer, die sich den Reichtum der Adligen aufteilen! Unseren Reichtum, den Reichtum, der uns vererbt worden ist“, sagte Dimitri Schladowski, Enkel eines kaukasischen Großgrundbesitzers, der von der Oktoberrevolution ins Exil gespült worden war.
    „Wie weit ist es überhaupt noch bis zu deiner Heimat?“, fragte der Finne, woraufhin Schladowski schätzte, siebzig Kilometer, vielleicht auch hundertzehn.
    „Und du gibst uns dann allen ein gutes Stück Land ab, mit dem wir unsere Familien gestopft bekommen?“
    „Natürlich, Finne, ein Russe tut, was er gesagt hat, und ein Russe sagt nur, was er auch tun wird. Darum redet er nicht soviel.“
    „Dann ist ja gut! Nicht, dass wir dich hier laufend beschützen und am Ende ist alles für die Katz!“
    „Moment, Leute, ich brauche eine Pinkelpause“, sagte Sturmmann Schmelz, der die ganze Zeit übersetzt hatte: „Bin gleich wieder da.“
    Der Sowjetrusse kam tatsächlich, um mit einer geballten Offensive an dieser flachen Stelle des Dnepr überzusetzen, an der früher die einzige Brücke im Umkreis von vierhundert Kilometern gestanden hatte. Sturmmann Schmelz musste das Pinkeln unterbrechen, sich im Laufen die Hose schließen, sich im Rennen den Gurt des Stahlhelms strammziehen und sich vom Finnen das Sturmgewehr zuwerfen lassen, während sie alle zur Gefechtsstation rannten, um den Feind aus dem Wasser zu jagen, aus dem Wasser und zurück ans andere Ufer, ans andere Ufer und gleich weiter bis zum nächsten Fluss: Bis zum Don! Bis zu Väterchen Don!
    Es war ein verregneter Morgen, das Wasser des Flusses spiegelte genauso wie die nassen Helme der Feinde. Sturmmann Schmelz hockte hinter den Maschinengewehrnestern, bereit, auf einen der Böcke zu springen, sobald jemand vor ihm ersetzt werden musste. Die Geschosse der verhassten Stalinorgeln fegten über sie hinweg, ließen ihr hohes Pfeifen und Jaulen auf sie

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