Letzte Haut - Roman
Verschanzung drückte, fand er die Linie nicht. Er versuchte sich an die Ausbildung auf dem Dänholm zu erinnern, doch einige Minuten lang mussten der Finne und der Franzose seinen Abschnitt mit übernehmen, während er Worte in die Luft ballerte, die niemand las, doch dann hatte er das MG im Griff. Er verstand, es verziehe ein wenig nach oben, und während er durch den Sehschlitz schielte und grob auf die reflektierenden Helme zielte, um mit kurzen Feuerstößen zu arbeiten, fand er nach und nach seinen Rhythmus. Drei, vier kurze Stöße, dann einen langen, den er über den ganzen Abschnitt legte, und auf dem Rückweg wieder nur kurze Feuerstöße, dann erneut den kompletten Takt die Linie in anderer Richtung entlang; immer hin und her und immer auf der Linie bleiben, redete er sich ein, als habe er eine Schere in der Hand, und dachte: Der Rhythmus, wo ich mit muss!
„Gut so!“, schrie Rottenführer Grass, und Schütze Walser steckte ihm eine Angezündete zwischen die Lippen.
Noch immer sandten die Granatwerfer ihre Fracht über den Fluss, doch es waren nur vier oder fünf, die alsbald auch von Tieffliegern gestellt wurden, die sich den Werfern im Schlangenverlauf und im Kreuzverhör näherten, wie die Manöver der sich überschneidenden Flugbahnen genannt wurden. Weiterhin jaulten die Stalinorgeln, doch Sturmmann Schmelz hörte sie kaum noch, übertönte das Rattern seines Maschinengewehrs doch alles andere. Langsam fand er Gefallen am Schießen, und schnell wurde er locker in seinem Rhythmus. Dieser so wichtige Rhythmus, die nassen Russen hatten bei ihm keinen Erfolg, Sturmmann Schmelz war sich sicher, nicht einer von ihnen werde das Ufer lebend erreichen. Verdammt, er war nicht diese Aber und Abertausenden von Kilometern gefahren, nur um hier zu krepieren. Sturmmann Schmelz spuckte die Kippe aus, biss sich auf die Unterlippe und setzte sich ein wenig aufrechter hin, während er ununterbrochen schoss.
Schon bald verfiel er darauf, das MG noch ein wenig tiefer anzusetzen, und nun war sein Abschnitt wahrlich einer der tödlichsten. Sturmmann Schmelz hatte gemerkt, dass einige der Sowjets zu tauchen begannen, sobald sie sich der gefährlichen Zone genähert hatten, und einigen gelang es tatsächlich, durchzubrechen, die dann von den Scharfschützen abgewehrt werden mussten. Doch sobald Sturmmann Schmelz nun ins Wasser der gedachten Linie schoss, und nicht über sie hinaus, konnten sich die deutschen Eulen getrost anderen Abschnitten zuwenden. Sturmmann Schmelz traf all die Sowjets; jene, die tauchten, jene, die schwammen, jene, die hechteten, und jene, die schießend stürmten. Er schrie, brüllte seinen ganzen Hass auf die Obergruppenführer Berger und Krüger, auf Dirlewanger und auf Richter Schmeißer heraus, der ihn verhöhnt hatte. Abfeuernd brüllte er ununterbrochen, und er feuerte auch dann noch, als Rottenführer Grass ihn vom Bock zog, weil der Feind seine Handlungen eingestellt hatte, und schrie: „Genug, Schmelz, genug ist genug! – Der Russe hat genug für heute!“
Sturmmann Schmelz starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Er begriff nicht und schrie: „Was?“
„Feuer einstellen! Gewehr reinigen! Vollzug melden!“
„Zu Befehl!“, schrie Sturmmann Schmelz, und vielleicht halfen ihm diese kurzen Hauptsätze wirklich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Er sollte einfache Handlungen ausführen, kein Problem, das war doch machbar! Erst einmal sollte er das Feuer einstellen, ha, ha, witzig, das war ja schon eingestellt, also weiter, Gewehr reinigen und Vollzug melden, kein Thema, das war auch nicht schwer, das waren ja alles einfache und ehrliche Arbeiten, welche die Gedanken fernhielten, diese Gedanken und Gefühle, die nur so, die nur handelnd unterdrückt werden konnten. Was für eine Chance sich ihm hier bot! Nur an der Front, glaubte er, könne er lernen, erfolgreich zu verdrängen. Nur hier könne er die Mechanismen trainieren. Und verdrängen zu können, meinte er, sei neben der Fähigkeit, Vertrauen aufbauen zu können, eine weitere wichtige Eigenschaft eines Mannes.
Sturmmann Schmelz sang beim Reinigen, ihm war, als wäre eine riesige Last von ihm abgefallen. Nichts, von heute an hatte er nichts mehr zu verantworten! Was für eine Leichtigkeit! Er hatte einfach nur Befehle auszuführen. Was für ein Urlaub vom Leben! Aus Leibeskräften sang er, und Schütze Walser sowie Oberschütze Kempowski, der ihn mit den Zieldaten versorgt hatte, halfen ihm beim Reinigen. Sie lobten ihn,
Weitere Kostenlose Bücher