Letzte Instanz
Judy gespürt
hatte, lockerte sich. Erst als wir bei Kaffee und Schokoladetrüffeln angekommen
waren — Rae hatte sich beim Einkauf im Delikatessenladen geradezu überschlagen
—, kamen wir wieder auf Lis Benedict zu sprechen.
»Du willst mir also helfen, den Fall
für das Historische Tribunal aufzubereiten?« sagte Jack zu mir.
»Dazu habe ich mich noch nicht
entschlossen.« Ich hatte Rae am Abend zuvor den Fall skizziert und versucht,
ihr Interesse zu wecken, indem ich ihr ein paar Passagen aus dem Protokoll
vorlas. Jetzt sah ich sie an, aber sie pickte geistesabwesend mit dem
Zeigefinger die Schokoladenkrümel von ihrem Teller.
Jacks Lippen zuckten ärgerlich. »Du
hast das Protokoll gelesen?«
»Ja.«
»Was brauchst du dann noch für deine
Entscheidung?«
»Eine bessere Vorstellung davon, ob
neue Ermittlungen überhaupt noch machbar sind. Es gibt eine Reihe Dinge in dem
Fall, bei denen es sich lohnte, aber ich weiß nicht, ob es möglich ist.«
»Warum nicht?«
»Erstens, welche Zeugen sind noch
verfügbar? Viele dürften inzwischen verstorben sein.« Ich sah Judy an. »Mit dir
kann ich zwar reden, aber deine Erinnerung an den Mord und den Prozeß wird
nicht so präzise sein wie die eines damals Erwachsenen.«
Sie nickte. »Das meiste ist ziemlich
verschwommen. Andere Dinge weiß ich gar nicht mehr.«
»Was ist mit der Mordnacht und mit den
Blutflecken auf der Kleidung deiner Mutter?«
»Daran kann ich mich überhaupt nicht
mehr erinnern. Meine Aussage vor Gericht kommt mir vor, als hätte sie jemand
anderes gemacht. Mein Vater behauptet, ich habe sie völlig verdrängt.«
»Du meinst Joseph Stameroff?«
»Ja.«
»Und dein leiblicher Vater? Was ist mit
ihm?«
»Er ist in den sechziger Jahren
gestorben.«
»Noch sehr jung, nicht wahr?«
»Er war sechsundvierzig, so alt, wie
ich jetzt bin. Er war Alkoholiker. Der Schnaps hat ihn umgebracht. Vincent
Benedict«, fügte sie hinzu, als spräche sie von einer Person, von der sie nur
gelesen hatte, »war nie sehr stabil. Wegen seiner Affäre mit Cordy McKittridge
hat er sich selbst die Schuld an dem gegeben, was Lis passiert ist. Auch an
Cordys Tod gab er sich die Schuld. Ich glaube, er hat sie wirklich geliebt. Und
natürlich fühlte er sich auch schuldig, weil er mich verlassen hat.«
»Warum hat er dich eigentlich zur
Adoption freigegeben?«
»Er wußte, daß er sich um ein Kind
nicht kümmern konnte. Und als Lis zum Tode verurteilt wurde, war Vincent
Benedict kaum fähig, nur für sich selbst zu sorgen.«
Wieder sah ich Rae an. Unsere Blicke
trafen sich, und sie sah schnell weg. Dann stand sie auf und fing an, den Tisch
abzuräumen.
Es lief nicht so, wie ich gehofft
hatte. Ich wandte mich Judy zu. »Wie war das mit dem Auffinden von Cordys
Ring?«
»Also, daran kann ich mich
erinnern.« Sie holte tief Luft und sah Jack an, der ihr beruhigend auf die
Schulter klopfte. »Ihr wißt ja, in jedem Leben gibt es diese besonderen
Meilensteine«, sagte sie. »›Dies passierte davor, das danach.‹ Also, jener
Abend gehört für mich zu diesen Meilensteinen. Nach dem Prozeß habe ich mir
immer wieder ein neues Ende ausgemalt, in dem ich nicht auf den Dachboden
hinaufging und mit dem Ring wieder herunterkam. Selbst als ich schon alt genug
war, um zu wissen, daß Tagträume nichts ändern, hielt ich an dieser Vorstellung
fest.« Sie unterbrach sich und fügte dann mit weicherer Stimme hinzu: »Das tue
ich noch immer.«
Der Gedanke, mit der Last einer solchen
Schuld zu leben, war für mich kaum vorstellbar. »Erzähl mir von dem Abend.«
Sie rutschte unbehaglich auf ihrem
Stuhl hin und her. Die Flammen der Kerzen auf dem Tisch spiegelten sich unruhig
in ihren runden Brillengläsern. »Wir waren aus Seacliff weggezogen«, begann
sie. »Niemand wollte mehr dort leben, nach... nach dem, was passiert war, vor
allem nicht Vincent... mein Vater. Er fand für uns ein Haus in der Lake Street,
ganz in der Nähe. Ich erinnere mich, daß es mir nicht besonders gefiel. In dem
Haus in Seacliff hatte mir das große Grundstück Auslauf geboten, und ich hatte
mein Dachzimmer geliebt. Dort oben fühlte ich mich wie in einem Adlerhorst, von
dem aus ich unbeobachtet Ausschau halten konnte. Jedenfalls schickten sie mich
in dem Sommer dann, das war Anfang Juli, tagsüber in ein Theatercamp. Für die
Aufführung eine Woche später brauchte ich ein Kostüm. Niemand half mir, eines
zu beschaffen. An dem Tag waren Dr. Eyestone und seine Frau und auch die
Sheridans zu einer
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