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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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erstarrte. Einen Augenblick
lang schien sie wie von den Kerzenflammen hypnotisiert. Sie holte schluchzend
Luft.
    Jack legte ihr die Hand auf die
Schulter. »Judy?«
    Sie schüttelte sie ab. »Mein Gott«,
sagte sie, »ich war es. Ich habe die Polizei gerufen!«
    »Warum?« fragte ich. »Um deine Mutter
zu schützen?«
    Sie schüttelte den Kopf, sichtlich
durcheinander. »Ich nehme es an. Aber sonst hatte ich nie die Polizei gerufen,
wenn mein Vater sie schlug.«
    »Passierte das häufig?«
    »Wenn er trank. Und er trank oft.«
    »Davon hast du mir nie erzählt«, sagte
Jack.
    Sie schürzte ärgerlich die Lippen. Er
sah es und zog sich zurück. Ich hatte diese Art des Umgangs miteinander schon ein
paarmal beobachtet: Sie signalisierte emotionale Bedürfnisse, er reagierte mit
Fürsorge. War ihr Bedürfnis befriedigt, wandte sie sich verärgert von ihm ab,
und er zog sich zurück.
    In die unbehagliche Stille hinein sagte
ich: »Ging das lange mit dem Trinken und den Schlägen?«
    Judy antwortete nicht sofort. Sie
wollte wohl zuerst ihr Temperament unter Kontrolle bekommen. »Solange ich mich
erinnern kann. Meine Eltern haben dreiundvierzig geheiratet, da war er noch im
Studium. Er hatte nie etwas anderes getan, war immer nur zur Schule und auf die
Universität gegangen. Ich glaube, er fühlte sich in der Ehe wie in einer Falle.
Und in seinem Job auch. Er war das jüngste Mitglied am Institut, und so schoben
ihm die anderen alle Routinearbeit zu. Dazu sah er gut aus und konnte charmant
sein, wenn es sein mußte. Also setzten sie ihn immer dann ein, wenn es um
PR-Arbeit ging.« Sie hielt inne. »Ich glaube, auch ich war für ihn eine Falle.
Er hat sich richtig beeilt, mich nach Mamas Verhaftung loszuwerden.«
    Sie drehte sich zu Jack um und verzog
die Lippen zu einer Entschuldigung für ihre vorherige Gereiztheit. »Ich habe
die Mißhandlungen dir gegenüber nie erwähnt, weil ich selbst erst kürzlich
wieder daran gedacht habe. Auch daß ich die Polizei angerufen habe, ist mir gerade
jetzt erst wieder eingefallen.« Sie sah mich an. »Es ist in letzter Zeit viel
passiert. Manchmal erzählt Lis etwas, oder irgend etwas läßt mich an meine
Kindheit denken, und — zack! bin ich wieder mitten in der Vergangenheit, und
alles steht klar vor mir.«
    »An was kannst du dich sonst noch
erinnern?« fragte ich.
    »An solche Dinge nicht mehr. Nur an
bestimmte Orte oder an bestimmte Äußerungen von Menschen. Ich weiß nicht, wie
das kommt und warum gerade jetzt.«
    Ich sah in die Kerzenflammen, in die
auch sie gestarrt hatte, als sie von dem längst vergangenen Abend erzählte. Sie
flackerten im Luftzug. Ihre Farbe changierte von einem Goldton an der Spitze
über hellrot und purpur bis kobaltblau an den Dochten. »Du sprachst von Cordys
Ring. Vielleicht rief der Amethystton der Flammen deine Erinnerungen hervor.«
    »Vielleicht. Aber warum gerade jetzt,
nach so vielen Jahren?«
    »Lis ist in dein Leben zurückgekehrt.«
    »Sie ist in meinem Leben, seit ich
einundzwanzig bin und Verbindung mit ihr im Gefängnis aufgenommen habe.«
    »Aber nicht im Alltag, wie jetzt. Du
hast nicht mit ihr unter einem Dach gelebt.«
    »Das wird es wohl sein.« Ihr Gesicht
zeigte müde Falten. Sie griff nach Jacks Hand und verschränkte ihre Finger mit
den seinen. Er drückte sie beruhigend. Ihr Verhaltensmuster trat in eine neue
Phase.
    Nach einer Weile sagte sie: »Mein Gott,
welche Erinnerungen werden wohl noch hochkommen? Was habe ich meiner Mutter sonst noch angetan?«
    »Du hast ihr überhaupt nichts angetan «,
sagte er zu ihr. »Du warst ein Kind, nicht verantwortlich.«
    Ich sah Rae an, die mit
untergeschlagenen Armen hinter Judys Stuhl stand. Sie hatte den
Gesichtsausdruck, den sie immer bekam, wenn sie die Atmosphäre von etwas
reinigen wollte, aber sie sagte nur: »Ich glaube, wir könnten jetzt einen
Verdauungsdrink vertragen.«
    Jack war unentschlossen, aber der Rest
entschied sich für einen Sherry. Als Rae eingeschenkt und sich wieder gesetzt
hatte, fragte ich Judy: »Erinnerst du dich, wie du dich gefühlt hast, als du
gegen deine Mutter aussagen solltest?«
    »Es klingt seltsam, aber ich wollte es —
und auch das macht mir Schuldgefühle. Ich war wütend auf sie. Weil sie Cordy
umgebracht hatte — wie ich damals glaubte — , und ich hatte alles verloren.«
    »Was passierte mit dir, nachdem sie
verhaftet worden war?«
    »Ungefähr zwei Wochen lang versuchte
mein Vater, die Dinge im Griff zu behalten. Er stellte eine Frau ein, die

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