Letzte Instanz
— was damals
als chic galt. Aber schließlich gab sie nach, machte bei diesem
Einführungsritual in die Gesellschaft mit, blieb schön zu Hause und
beschäftigte sich dort... womit auch immer. Als wir anläßlich des
Winter-Cottillions im Sheraton Palace auf der Toilette einen Gin nippten,
schlug sie mir vor, ich solle das Apartment mieten.«
»Was für ein Apartment? Laut
Gerichtsprotokoll wohnte Cordy im Haus ihrer Eltern.«
»Das Apartment kam vor Gericht nie zur
Sprache. Überhaupt wurde vieles verschwiegen, aus Gründen, die Ihnen noch
deutlich werden. Die Wohnung lag in North Beach, in einer kleinen Seitenstraße
von der Grant Avenue. Sehr bohemienhaft, über einer italienischen Bäckerei.
Richtig gewohnt hat dort nur ein Mädchen, aber benutzt haben wir das Apartment
zu sechst für unsere... Wir nannten es Abenteuer.«
»Wer waren die anderen?«
»Meine Zimmergenossin aus Stanford.
Zwei ehemalige Burke-Schülerinnen, die damals am Mills College in Oakland
waren. Ein Mädchen namens Melissa — das war die, die ständig dort lebte. Ich
habe Melissa nie richtig kennengelernt. Sie war Cordys eigentliche Freundin und
oft nicht da.«
»Und diese Abenteuer — das waren
sexuelle Abenteuer, oder?«
»Gelegentlich. Aber mit heute
verglichen, ging es eher zahm zu. In der Hauptsache zogen wir uns dort nur
wilder an, als uns zu Hause oder an der Schule erlaubt war, gingen in Lokale,
die unseren Eltern bestimmt nicht zugesagt hätten, lernten Leute kennen, die
ihnen nicht gefallen hätten, und blieben bis tief in die Nacht aus. Wir gaben
Parties, zu denen auch Künstler und Intellektuelle kamen, und probierten
Marihuana aus. Am Wochenende, wenn uns unsere Eltern in der College-Bibliothek
oder zu Besuch bei Schulfreunden wähnten, tanzten wir direkt vor ihrer Nase
durch San Francisco.«
Das war genau das Doppelleben, auf das
sich ein leichtfertiges Mädchen aus der Gesellschaft noch einlassen konnte:
oberflächlich gewagt, aber doch sicher. Wuchs es ihr über den Kopf, konnte sie
immer zurück ins sichere Nest flüchten. Doch gerade diese Form von Doppelleben
interessierte mich im Hinblick darauf, was mit Cordy McKittridge passiert war.
»In welchen Lokalen verkehrten Sie damals?« fragte ich. »Und was waren das für
Leute, die Ihre Eltern lieber nicht kennen sollten?«
»Also, da gab es eine Reihe Clubs: das
Sinaloa, Ann’s Fourforty, das Hungry I und Forbidden City mit seinen chinesischen
Showgirls. Cafés. Das war noch vor der Beat-Ära, aber die Stadt war voller
Bohemiens. Wir haben Künstler kennengelernt, Dichter, Schauspieler, alle
möglichen Schriftsteller und Intellektuelle. Wild dreinblickende Sozialisten,
wahrscheinlich sogar Kommunisten. Und dann gab es noch anrüchigere Lokalitäten:
Spielsalons in Chinatown, in die auch Weiße gehen konnten, Hinterzimmer in Bars
im Fillmore-Distrikt und Jazzkneipen ohne Nachtlizenz.«
Louise Wingfield hielt inne und
kicherte. »Manchmal sind wir nur mit knapper Not entkommen. Im Forbidden City
sind wir mal einem Nachbarn unserer Eltern begegnet. Nur die Tatsache, daß die
Frau in seiner Begleitung nicht seine eigene war, hat uns damals gerettet. Ein
anderes Mal kreuzte der Vater meiner Zimmergenossin im Bimbo’s auf — dabei
wohnte er in Santa Barbara. Zum Glück waren wir draußen, ehe er uns gesehen
hatte.« Plötzlich wurde ihr Gesicht wieder nüchtern. »Und dann war da Cordys
Abtreibung.«
»Wann war das?«
»Im August, bevor sie starb. Kurz bevor
sie... mit Vincent angefangen hat. Ich bin mit ihr nach Ensenada in die Klinik
gefahren. Es war... schrecklich. Auf dem Heimweg wurde sie am Flughafen von L.
A. ohnmächtig, und ich fürchtete schon, sie würde verbluten. Aber es war nur
die Hitze.«
Ich machte mir Notizen auf meinem
Block. »Wer war der Mann?«
»Das hat Cordy uns nicht gesagt. Ich
hatte immer den Verdacht, es wäre Leonard Eyestone. Sie hatten sich ab und an
getroffen. Sollte er es gewesen sein, so hat keiner von beiden es je zugegeben.
Haben Sie schon mit Leonard gesprochen?«
»Ich hoffe, daß ich heute noch dazu
komme.«
»Na ja, Leonard ist ein sonderbares
Schätzchen — nicht gerade der Typ von Mann, mit dem sich Cordy sonst abgab.
Promovierter Volkswirt. Wie dem auch sei, ich habe sie in dem Jahr vor unserem
Flug nach Mexiko nur mit wenigen anderen Männern gesehen, aber mit keinem so
häufig wie mit Leonard. Wer immer es auch gewesen sein mag, er muß Geld gehabt
haben. Eine Abtreibung war teuer, und wir sind in der Ersten Klasse
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