Letzte Instanz
Angst vor einer
Wiederaufnahme vor einem ordentlichen Gericht hat. Das kann ich nur allzu gut
verstehen. Aber angenommen, du findest neue Beweise... Deshalb wollte ich
unbedingt, daß du die Ermittlungen übernimmst. Wenn überhaupt jemand
herausbekommt, was damals wirklich geschehen ist, dann bist das du.«
Großes Kompliment. Und eine schwer zu
tragende Bürde. »Du schmeichelst mir.«
Jacks Telefon summte. Er ging an seinen
Schreibtisch, meldete sich und hielt dann mir den Hörer hin. »Für dich. Es ist
Ted.«
Ted sagte: »Ich habe eine Nachricht für
dich, von einer Alison. Du sollst dich um elf Uhr dreißig mit Louise Wingfield
bei der Adresse des Projekts ›Helfende Hände‹ an der Sechzehnten Straße
treffen.«
»Danke.« Ich legte den Hörer auf und
drehte mich zu Jack um. »Eine Bekannte von mir, die für wohltätige Zwecke
arbeitet, hat mit der Freundin von Cordy McKittridge gesprochen, die damals
eine Aussage gemacht hat über die Nachricht an das Opfer. Sie hat für mich eine
Verabredung arrangiert. Ich hatte gefürchtet, Louise Wingfield könnte sich
weigern, mit mir über den Fall zu reden, doch offensichtlich ist sie bereit
dazu.«
»Ich bezweifle, daß die Menschen nach
all den Jahren noch feindselig reagieren.«
»Irgendwer ist noch feindselig, Jack.
Wenn du Beweise brauchst, sieh dir nur Judys Hauswand an.«
Das Projekt Helfende Hände war in einer
Ladenfront mitten im schmuddeligen Zentrum des Mission Districts untergebracht.
Früher war es einmal eine Buchhandlung mit Café gewesen. Auf der Bar standen
noch die Espresso-Maschine und Türme von Kunststoffbechern. Junge Männer und
Frauen, zumeist lateinamerikanischer Abstammung, saßen an den Fenstertischen,
tranken Kaffee, unterhielten sich oder lasen. In den Regalen nebenan lagen bunt
durcheinander Broschüren und gebrauchte Lehrbücher, College- und
Handelsschulverzeichnisse und allerlei Selbsthilfeanleitungen.
Im hinteren Teil waren Kabinen für
Beratungsgespräche und für die Verwaltung abgeteilt, und in einer davon fand
ich Louise Wingfield. Sie war eine große, kräftige Frau in schwarzen Jeans und
einem weichen, ausgewaschenen Chambray-Shirt. Ihr graues Haar trug sie modisch
kurz geschnitten, und ihre Finger waren übersät von Tinten- und Nikotinflecken.
Während sie mich zu einem Holzstuhl winkte, der zwischen ihrem Schreibtisch und
der dünnen Wand ihres Büroraums eingekeilt stand, telefonierte sie wild
gestikulierend.
»Gordon, dieser junge Mann ist einer
unserer hoffnungsvollsten College-Kandidaten, und er hat deine Unterstützung
verdient. Du mußt dich diese Woche mit ihm treffen, damit du noch
rechtzeitig vor dem frühen Anmeldeschluß die Empfehlung für deine Alma Mater
schreiben kannst... Nein, ich werde sie nicht schreiben, damit du sie nur noch
unterzeichnen mußt. Das wäre ein schlechtes Beispiel für meine Kundschaft... Warum? Mein Lieber, weil wir versuchen, aus diesen unterprivilegierten jungen Leuten
hervorragende Bürger und Führungspersönlichkeiten zu machen. Und eines tun
hervorragende Bürger und Führungspersönlichkeiten ganz gewiß nicht : Sie
geben keine Empfehlungen für Leute, die sie nicht persönlich kennen... Freitag
um vier? Gut, mein Lieber, ich werde da sein.«
Louise Wingfield legte den Hörer auf,
schenkte mir ein strahlendes Lächeln und kritzelte etwas auf ihren Notizblock.
»Gordon Kane nimmt diesen Mist für mich einzig und allein auf sich«, sagte sie,
»weil ich meinen Sohn und ihn zusammen sturzbetrunken in meinem Gewächshaus
erwischt habe, als sie gerade vierzehn waren. Damals habe ich ihnen eine Tracht
Prügel verpaßt, die sie nie vergessen haben. Gordon hat jetzt noch die Hosen
voll vor mir.«
Ich lächelte und zog meinen Notizblock
hervor. Gordon Kane war eine Größe in der Geschäftswelt und der Gesellschaft
von San Francisco, und demzufolge ging das Gerücht, ›Seine Majestät legen Wert
auf feinstes Benehmen an der Tafel‹. Ihn sich »sturzbetrunken« oder »mit vollen
Hosen« vorzustellen, war höchst amüsant. »So haben Sie sicher die besten
Verbindungen, auf die Sie für Ihre Schützlinge zurückgreifen können.«
Louise Wingfield riß das oberste Blatt
von ihrem Block und warf es in den Korb mit den zu erledigenden Sachen.
»Niemand, den Sie einmal auf Ihren sauberen Fußboden kotzen gesehen haben, kann
mehr Eindruck auf Sie machen. Aber es stimmt, ich hatte das Glück, in die
»goldenen Kreise‹ hineingeboren zu werden, wie ein Gesellschaftskolumnist
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