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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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deutlich sehen konnte. Hielt ihr Vermieter nichts von
Glühbirnen?
    »Ich habe keine Zeit. Ich erwarte...«
    »Es dauert nur ein paar Minuten.«
    Die Frau seufzte. »In Ordnung. Wenn es
schnell geht.« Sie drehte sich um und führte mich in ihre Wohnung. Von hinten
sah ihr ausgebleichtes, weißblondes Haar aus, als sei es ohne Zuhilfenahme
eines Spiegels geschnitten worden. Es hing in Strähnen herunter und bildete
eine Wellenlinie über dem Kragen ihres sackartigen geblümten Kleides. Die
Wohnung war fast genauso dunkel wie das Treppenhaus, aber hier roch es besser.
    »Setzen Sie sich.« Melissa Cardinal
zeigte auf ein klobiges Sofa.
    Ich setzte mich und wartete, daß sie
Licht machte. Doch sie ließ sich nur ächzend in einen Sessel sinken. Eine weiße
Katze sprang ihr auf den Schoß, und sie drückte sie besitzergreifend an sich.
Allmählich konnte ich sie besser sehen, und der Anblick war ein Schock.
    Melissa Cardinais Gesicht war von
schrecklichen Narben entstellt. Die linke Wange war uneben und runzelig, der
Mundwinkel war zu einem ständigen, einseitigen Grinsen verzogen. Von rechts
betrachtet, wirkte ihr Gesicht ganz normal, aber von links war es entsetzlich
verunstaltet. Der Flugzeugabsturz, dachte ich, damals einundsechzig.
    Mein Gesichtsausdruck mußte meine
Überraschung verraten haben, denn ihre dickliche Hand fuhr zur Wange hinauf —
nur kurz, ehe sie dann die Katze streichelte. Um ihr Unbehagen nicht noch zu
verstärken, holte ich meinen Notizblock hervor und sah mich im Zimmer um. Es
war schäbig möbliert, bis auf eine hohe Vitrine voller Tierfiguren, die
liebevoll zusammengestellt und wahrscheinlich sorgfältig abgestaubt waren.
    Mich überkam ein Anflug von Mitgefühl
für Melissa Cardinal, wie sie da so allein im Halbdunkel mit ihrer Entstellung
lebte. Es wunderte mich nicht, daß Frank Fabrizio sie nicht erkannt hatte, bis
ihr Begleiter ihren Namen nannte. Und er hatte wohl nur ihre gute Seite
gesehen.
    »Was wollen Sie denn wissen?« fragte
Melissa Cardinal abwehrend, als spüre sie mein Mitgefühl, auf das sie keinen
Wert legte.
    »Ich habe erfahren, daß Sie eine
Freundin von Cordy McKittridge waren.«
    Sie fuhr so heftig hoch, daß die Katze
von ihrem Schoß flüchtete. »Cordy! Cordy ist schon seit vielen Jahren tot.«
    »Einer unserer Anwälte hat mich
gebeten, den Fall noch einmal zu untersuchen. Wie ich weiß, haben Sie...«
    »Ich kann über Cordy nicht reden.«
    »Warum nicht?«
    »Ich kann es einfach nicht, das ist
alles.« Sie versuchte aufzustehen, stützte sich dabei schwer auf die Lehnen
ihres Sessels und sank wieder hilflos zurück. »Sie gehen besser. Ich erwarte
Besuch.«
    »Miss Cardinal, es gibt keinen Grund
zur Aufregung. Wie Sie sagten, ist Cordy schon lange tot. Es kann doch nicht
mehr wehtun, darüber zu reden, wie...«
    »Kann es nicht?« Ihre Augen funkelten.
»Das zeigt, wie wenig Sie wirklich wissen.«
    »Wie kann es wehtun?«
    Schweigen.
    »Hat Ihnen jemand verboten, über Cordy
zu reden? Sie bedroht?«
    Melissa Cardinal suchte ihre Katze und
entdeckte sie unter der Vitrine. Sie schnalzte mit der Zunge, und das Tier
sprang wieder auf ihren Schoß. Melissa wiegte das Fellknäuel wie einen Schild
vor ihrer Brust.
    Ich suchte nach einem weniger
einschüchternden Ansatz. »Erinnern Sie sich an Frank Fabrizio? Den Bäcker, der
Ihnen, Cordy und Ihren Freundinnen die Wohnung vermietet hat?«
    »Sicher erinnere ich mich an Frank. Ich
sehe ihn immer wieder hier in der Gegend, aber er sieht mich nie.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich nur nachts ausgehe, darum.«
Sie berührte vorsichtig ihre Wange, als täte sie noch immer weh. »Es ist jetzt
mehr als dreißig Jahre her, aber noch immer kann ich kein Tageslicht ertragen,
geschweige denn einen Spiegel. Ich war recht hübsch, wissen Sie — ich war
Stewardeß und bin um die ganze Welt geflogen. Bis zu der Bruchlandung in Orly,
im Herbst einundsechzig. Einer der Passagiere, ein kleiner Junge, der allein
reiste, war nicht mit den anderen herausgeholt worden. Da bin ich
zurückgegangen. War kein Heldentum — nur das, was man uns beigebracht hatte. Er
kam ohne einen Kratzer in Sicherheit, ich aber hatte so schwere Verbrennungen,
daß auch mit zwei Operationen nicht mehr zu erreichen war als das hier. Und
wissen Sie was? Seine Eltern haben sich nicht einmal bei mir bedankt.«
    »Das tut mir leid für Sie.«
    »Nicht mehr als mir selbst.« Ihre
Stimme bekam einen bitteren und überdrüssigen Ton. »Sehen Sie, ich möchte mich
nicht an

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