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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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abgespielt hatte. Obwohl sich die Gegend verändert hatte, hatte
ich die Gärten und das Taubenhaus tatsächlich gesehen. Und später in
meinen Träumen hatte ich gespürt, was dort vor sich gegangen sein mußte. Ich
wußte es und wußte es doch nicht...
    Am Ende lief alles darauf hinaus, daß
ich mich zu sehr auf diesen Fall eingelassen hatte und ernstlich in Gefahr
geriet, auf beinahe krankhafte Weise von ihm besessen zu werden. Wenn man
derart seine objektive Distanz verliert, sollte man schleunigst abbrechen —
aufgeben. Man hat sein Bestes getan, aber man sollte etwas anderes anfangen,
bevor man seinem Klienten und sich selbst irreparablen Schaden zufügt.
    Doch dafür war es jetzt zu spät. Wenn
ich mich erst einmal an die Aufklärung eines Falles gemacht hatte, konnte ich
nicht einfach Schluß machen. Man ist seinem Klienten verpflichtet, natürlich,
aber mehr noch sich selbst. Ich könnte nicht mit der Erkenntnis leben, daß ich
mich durch schlimme Träume von der Suche nach der Wahrheit hätte abschrecken
lassen.
    Hätte ich wirklich die Flucht vor
diesem Fall ergreifen wollen, wäre ich am Abend zuvor nicht nach Seacliff
gefahren. Niemals hätte ich diese vergilbten Gerichtsakten aufgeschlagen. Und
niemals wäre ich gleich auf die Bernal Heights gestiegen, um mit Lis zu
sprechen.
    Jetzt war es zu spät. Vielleicht war es
schon immer zu spät gewesen.
     
    Kaum hatte ich mich angezogen und mir
einen Kaffee eingegossen, rief ich auch schon bei All Souls an und fragte Rae,
ob einer ihrer Informanten ihr etwas zu den Wandschmierereien habe sagen
können. Nein, sagte sie, aber sie bleibe am Ball. Ich ließ mich mit Jack
verbinden und fragte ihn, ob Judy mit ihren Bemühungen irgendwie weitergekommen
sei, ihren Adoptivvater zu einem Gespräch mit mir zu überreden. Er wußte es
nicht. Judy war geschäftlich außerhalb der Stadt, aber er werde sie fragen,
wenn sie am Abend heimkomme. Schließlich rief ich im Haven an, jener Bar am
Rande von Chinatown, wo Frank Fabrizio Melissa Cardinal entdeckt hatte. Von
einem Tonband erfuhr ich, daß um elf geöffnet wurde.
    Das ließ mir eine Menge Zeit für ein
Gespräch mit Lis Benedict. Ich packte Handtasche und Aktenkoffer und machte
mich auf den Weg nach Bernal Heights.
    Im Nebel wirkte die schmale, steile
Straße trostlos. Mit den fleckigen pinkfarbenen Buchstaben auf der weißen
Fassade wirkte das viktorianische Haus schäbig und verlassen. Ich klingelte,
bekam aber keine Antwort. Also griff ich zum Türklopfer und wartete. Nach ein
paar Augenblicken bewegte sich der Vorhang hinter dem Fenster des
Vorderzimmers. Dann rasselte die Kette, und Fis öffnete die Tür.
    Sie sah abgespannt aus. Das weiße Haar
hing ihr in Strähnen herunter, und der schwarze Bademantel klaffte über der
Brust auf. Sie zog ihn zusammen und den Gürtel enger, bevor sie mich hereinbat.
Im Haus war es kalt. Abgestandener Küchendunst hing in der Luft. Der kleine
Salon rechts war ebenso verstaubt und unbenutzt wie der bei mir zu Hause.
    Wortlos bat mich Lis mit einer
Kopfbewegung durch einen engen Flur zur Küche und zum Eßbereich. Trotz der
warmen Erdtöne und der bequemen Möbel wirkte der Raum trostlos. Eine
Glasschiebetür führte zu einer Terrasse, hinter der der Nebel durch das Laub
kroch.
    Auf dem Tisch neben einer halbvollen
Tasse Kaffee lag eine Zeitung mit aufgeschlagenem Anzeigenteil. Im Fernseher
auf der Küchenbar mühte sich bei abgedrehtem Ton eine Gymnastikgruppe mit
schmerzlichem Grimassieren. Lis’ Lächeln, als sie mir einen Kaffee anbot,
wirkte ganz ähnlich.
    Ich dankte und setzte mich an den
Tisch. Das Blatt war eine Sonntagszeitung mit Wohnungsmarkt. Lis kam mit einer
Tasse zurück. Sie ging stockend, als spüre sie heute die ganze Last ihrer
Jahre. Sie setzte sich und schob die Zeitung beiseite. »Ich würde Ihnen ja gern
ein Frühstück anbieten, aber leider ist mir der Vorrat ausgegangen.«
    Wie automatisch sie die perfekte
Gastgeberin spielte, selbst noch nach den vielen Jahren im Gefängnis. Ich
versicherte ihr, daß ich morgens ohnehin kaum etwas zu mir nehme und fragte
dann: »Sagt Ihnen der Name Melissa Cardinal etwas?«
    Sie dachte nach und schüttelte den
Kopf. »Ein seltsamer Name. Ich würde mich sicher erinnern, wenn ich ihn jemals
gehört hätte.«
    »Auch wenn dies vor Ihrer Zeit im
Gefängnis gewesen wäre? «
    »Ich bin im Gefängnis ja nicht
verblödet«, gab sie ein wenig scharf zurück. »Wer ist sie?«
    »Sie ist eine frühere Zimmergenossin
von Cordy

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