Letzte Instanz
schlechte Alternative, vor der ich da stand.
Auch als die CDs zum zweitenmal durchgelaufen
waren, hatte ich mich immer noch nicht für eine der beiden Strategien
entschieden. Also gab ich es auf und ging ins Bett.
Zuerst wußte ich nicht, was das für ein
Läuten war. Ich hatte so tief geträumt, daß ich die Bilder nicht lange genug
festhalten konnte, um sie zu verstehen. Ich stützte mich auf einen Ellbogen und
schob mir die Haare aus dem Gesicht. Mein Digitalwecker zeigte zwei Uhr
siebzehn. Das Telefon läutete weiter. Ich griff nach dem Hörer und rechnete
damit, einen Betrunkenen anknurren zu müssen, der sich verwählt hatte.
Es war Jacks Stimme — aufgeregt, Worte
hervorstoßend, die ich nicht verstand.
»Was? Sag das noch einmal.«
»Komm gleich hierher.«
»Warum? Und wohin?«
»Sharon, wach auf! Das habe ich bereits
gesagt — in Judys Haus. Lis ist ermordet worden.«
12
Wenn Streifenwagen und Ambulanzen in
einem Wohngebiet auftauchen, gibt es immer einen Menschenauflauf, sogar morgens
um zwanzig vor drei. Zuerst dachte ich, die kleine Gruppe vor Judys Haus trete
für mich auseinander. Doch dann sah ich, daß die Tote gerade herausgetragen
wurde. Also machte ich selber Platz und sah zur Seite, als der Leichensack auf
der Trage vorbeikam.
Eine uniformierte Streifenpolizistin
bewachte den Eingang. Ich sagte ihr, wer ich war. Sie sprach gerade mit jemand
anderem, winkte mich aber hinein. Jack und Judy saßen auf dem Sofa im kleinen
Salon, in den ich an dem Morgen einen Blick geworfen hatte. Sie sah zerknittert
aus und hatte rotgeweinte Augen. Er hatte Joggingschuhe an, die nicht
zusammenpaßten. Sie mußte spät nach Hause gekommen sein, hatte Lis dann wohl
gefunden und ihn angerufen und aus dem Schlaf geholt.
Bei ihnen war Bart Wallace, eine
Inspektor von der Mordkommission. Ein drahtiger Schwarzer mit grauem Haar und
silbergerahmter Brille: Wallace war einer der besten Detectives seiner
Abteilung. Ich kannte und mochte ihn seit Jahren, hatte Respekt vor seinen
Fähigkeiten und vertraute seinem Urteil. Ich war erleichtert zu sehen, daß er
den Anruf entgegengenommen hatte.
Wallace kam auf mich zu und schüttelte
mir die Hand. »Mr. Stuart sagte, Sie hätten vielleicht Informationen, die uns
weiterhelfen könnten.«
»Das hoffe ich.« Ich warf Jack einen
Blick zu, aber seine Aufmerksamkeit galt allein Judy. Sie saß wie erstarrt da,
den Blick zu Boden gesenkt. Jack hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Doch
sie schien seine Anwesenheit kaum wahrzunehmen und schon gar nicht Wallace’
oder meine.
Bart bemerkte das auch. Leise sagte er:
»Gehen wir in die Küche zurück, wo Miss Benedict ihre Mutter gefunden hat.«
Ich nickte und folgte ihm durch den
Flur. »Wann hat sie sie gefunden?« flüsterte ich.
»Der Anruf kam um zehn vor eins. Sie
war gerade mit der letzten Nachtmaschine aus New York zurückgekommen.«
»Und wie ist es passiert?«
»Lis Benedict wurde in den Kopf
geschossen. Wahrscheinlich aus nächster Nähe: strahlenförmiger Einschuß,
Hautlappen nach außen, Schmauchspuren.«
»Also jemand, den sie kannte?«
»Vielleicht auch nicht. Der Täter hat
sich gewaltsam Zutritt verschafft. Sie waren hier schon mal, kennen das Haus
also?«
»Ja.«
»Die Glasschiebetür zum Hof war
aufgebrochen. Spuren von einem Kampf im Eßbereich — umgekippter Stuhl,
heruntergefallene Kaffeetasse. Die Waffe, die wir neben ihr gefunden haben — eine
32er, gehört ihrer Tochter. Sie sagt, sie hat sie zum Selbstschutz gekauft.«
»Also versuchte Lis Benedict, einen
Eindringling abzuschrecken. Er nahm ihr die Waffe ab und tötete sie.« Das war
ein vorzügliches Argument gegen Feuerwaffen in den Händen ungeübter Personen.
»Sieht so aus«, sagte Wallace.
Arme Lis, dachte ich. Allein, voller
Angst, hilflos gegen einen jüngeren und stärkeren Gegner. Mir fiel ein, wie ich
mich von ihr verabschiedet hatte: Ich war ärgerlich geworden, hatte gesagt, sie
solle aufhören, die Märtyrerin zu spielen. Und ich hatte ihr gesagt, daß Jack
vielleicht später vorbeikommen werde. Doch der hatte nicht gewollt.
Ich schob mein Bedauern vorerst
beiseite und zeigte auf die Küche. »Kann man jetzt rein?«
»Die Spurensicherung ist
abgeschlossen.«
Wir gingen in den Raum, wo ich mich
morgens mit Lis unterhalten hatte. Die Anzeichen für einen Kampf waren nicht
zahlreich, aber sofort zu erkennen. Der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, lag
auf der Seite. Ihre Kaffeetasse lag zerbrochen neben
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