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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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mürrisch und einsilbig. Als Jack und
ich anfingen, die nächsten Schritte aufzulisten, lebte sie auf und vergrub sich
gleich in die Unterlagen. Das war nun genau die Umkehrung ihres bisherigen
Widerstands, in den Fall hereingezogen zu werden, aber ich verkniff mir einen
Kommentar. Statt dessen notierte ich, was zu tun war.
    Zwei Dinge mußten gleich geschehen: ein
Anruf bei Leonard Eyestone wegen eines Gesprächstermins morgen früh und ein
zweiter Anruf bei Cathy Potter, damit ich Zugang zu dem Haus in Seacliff
erhielt. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Melissa Cardinal zu.
    »Alles, was wir über ihre Vergangenheit
herausbekommen, kann uns vielleicht helfen«, sagte ich zu Rae. »Siehst du mal
nach, was es an amtlichen Unterlagen gibt?«
    »Klar. Ich habe jede Menge Zeit.« Sie
blickte finster, sagte aber nichts weiter.
    Jack und ich wechselten Blicke, die
besagten, daß keiner von uns vorhatte, die Tiefen von Raes Mißmut auszuloten.
»Es gibt da eine Miss Cook in der Personalabteilung der TWA in Kansas City«,
sagte ich, »die glaubt, wir seien hinter Melissa her, weil eine unserer Klientinnen
ihr etwas vererbt hat. Ruf sie an und sieh zu, ob sie dir Melissas
Versicherungsnummer gibt oder sonst etwas aus ihrer Personalakte.«
    »In Ordnung. Wenn ich im Meldeamt
fündig werde und die Namen ihrer Eltern herausbekomme, gehe ich zum Wahlamt.
Die könnten dann ihre Adressen und Berufe registriert haben.«
    »Melissa selbst könnte alt genug
gewesen sein, daß sie schon in den frühen Fünfzigern wählen durfte. Geh dem
auch nach.« Ich sah auf, als Ted mit einem großen Aktenkoffer hereinkam.
    »Für dich, Shar«, sagte er. »Kommt aus
dem Polizeipräsidium.«
    Die Sendung kam von Adah Joslyn. »Das
sind die Originalakten der Polizei zum Fall Benedict, möchte ich wetten. Jack,
willst du sie dir zuerst ansehen? Ich möchte nämlich gerade mal nach North
Beach fahren und noch einmal mit dem Barkeeper im Haven und Frank Fabrizio
reden. Das ist der Mann, der damals den Mädchen die Wohnung vermietet hatte.
Wie wäre es, wenn wir uns hier zum Dinner wieder träfen?«
    Beide nickten. Rae sagte: »Ich sorge
für die Pizza.«
    »Was ist mit Judy?« fragte ich Jack.
»Sollte sie nicht auch dabei sein?«
    Er zögerte eine Sekunde, und ein
Schatten fiel über sein zerfurchtes Gesicht. »Ich schaue mal, ob sie sich
freimachen kann«, war alles, was er sagte.
     
    Das Gedächtnis des Barkeepers im Haven
hatte sich seit der letzten Woche nicht gebessert. Es war eher noch schlechter
geworden. Diesmal versuchte er nicht einmal mehr, mir Geld zu entlocken. Das
warf natürlich die Frage auf, ob hinter seinem Gedächtnisschwund vielleicht
eine Bargeldspritze steckte — und wenn ja, von wem sie stammte. Ich ließ meinen
Wagen in der Nähe stehen und ging die wenigen Blocks hinauf zu Fabrizios
Bäckerei. Von Frank Fabrizios Sohn erfuhr ich, daß sein Vater ein Mann mit
festgelegtem Tagesablauf sei. Im Augenblick könne man ihn in der Sonne auf dem
Washington Square finden.
    Es war wieder ein wunderbarer
Frühlingsnachmittag, und den oberflächlichen Betrachter mochte der Platz an die
Vollkommenheit einer Ansichtskarte erinnern. Alte Männer und Frauen sonnten
sich auf den Bänken. Kinder, viele in katholischer Schuluniform, spielten.
Liebespärchen und Singles lagen auf dem Rasen. Jungen steckten die Köpfe
zusammen und redeten miteinander, während sie hübschen Mädchen nachschauten.
Doch für einen erfahrenen Beobachter wie mich hatte die Szene wenig mit einer
Idylle zu tun. Zu vielen alten Menschen sah man ihre schlechten Lebensumstände
an. Zwischen den Kindern lungerten junge Crack-Dealer herum. Acht von zehn
Schläfern auf der Wiese waren obdachlos. Die Gespräche der Jungen drehten sich
großenteils um Drogen und illegale Geschäfte. Zu viele der hübschen Mädchen
waren Prostituierte.
    Es machte mich traurig, daß Zeit und
Erfahrung mich gelehrt hatten, mehr Schlimmes als Gutes wahrzunehmen. Doch in
gewissem Sinne war ich jetzt besser dran als die junge, idealistische McCone,
deren Glaube an die Menschheit immer wieder durch die Entdeckung scheußlicher
Wahrheiten erschüttert worden war. Zudem war ich noch nicht so zynisch, das
Gute nicht zu erkennen, wenn ich es sah, und auch nicht so abgestumpft, daß ich
den seltenen schönen Augenblick nicht mehr festhalten und genießen konnte —
oder?
    Weitere Seelenerforschung blieb mir
erspart, als ich Frank Fabrizio auf einer Bank im Schatten eines Baumes
entdeckte. Er

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