Letzte Instanz
saß zurückgelehnt, die Arme über der Brust verschränkt, die Augen
geschlossen — ein zufriedener alter Mann, der sich an dem schönen Nachmittag
erfreute. Als ich zu ihm trat, öffnete er ein Auge. Er richtete sich auf und
lächelte.
»Sie sind die Detektivin und Freundin
meiner ehemaligen Mieterin«, sagte er, als ich mich zu ihm setzte. »Haben Sie
die kleine Stewardeß inzwischen gefunden?«
»Ja. Sie hatten recht — es ist
schrecklich, was die Zeit uns antut.« Ich schilderte ihm kurz, wie es Melissa
Cardinal ging.
Fabrizio machte ein wehmütiges Gesicht.
»So ein Verfall«, sagte er. »Wissen Sie, mir tut ja auch hier und da einiges
weh, und manchmal komme ich morgens nur schlecht aus dem Bett. Aber was ist das
schon, verglichen damit? Und das Tödliche ist, daß sie es sich selbst antut.
Schließt sich ein und läßt ihr Leben versickern.«
»Sie ist furchtbar vernarbt...«
»Narben.« Er klang ungeduldig. »Narben
im Gesicht sind gar nichts. Wenn man zuläßt, daß sie die Seele überziehen,
dann... Aber mir steht da wohl kein Urteil zu. Was geschehen ist, ist geschehen.«
»Mr. Fabrizio, als sie damals die
Wohnung vermieteten, haben Sie da nur mit Melissa einen Vertrag gemacht?«
»Sie hatte sich auf meine Anzeige
gemeldet. Das war im Oktober dreiundfünfzig. Ich weiß das deswegen so genau,
weil wir in dem Sommer das Haus in Dale City gekauft hatten und meine Frau
außer sich war, weil die Wohnung noch nicht vermietet war. Sie rechnete aber
mit den Einnahmen für unser Rentenalter. Unser Rentenalter... was für Pläne sie
hatte!« Er sah düster in die Runde und zuckte dann mit den Schultern. »Ach, was
nutzt es, darüber noch zu reden. Es ist vorbei, Gott schenke ihr Frieden. Um
auf Ihre Frage zurückzukommen: Es waren Melissa und ihr Stiefbruder, die als
erste in der Wohnung wohnten.«
»Erinnern Sie sich an seinen Namen?«
Die Falten um Fabrizios Augen
vertieften sich, als er nachdachte. »Roger... Soundso.«
»Nicht Cardinal?«
»Nein. Wie gesagt, er war ihr
Stiefbruder. Auch ein gutes Stück älter — in den Dreißigern. Hat nur einen oder
zwei Monate dort gewohnt. Danach kam Melissa zu mir und fragte mich, ob ein
paar Freundinnen mit einziehen dürften, um mit ihr die Miete zu teilen. Was
konnte ich anderes sagen als ja? Und was dann folgte, laute Parties und ein
ständiges Kommen und Gehen — ich mußte meine Frau mächtig zurückhalten.«
»Was war mit dem Stiefbruder? Warum zog
er wieder aus?«
Fabrizio schüttelte den Kopf. »Ich kann
mich nicht erinnern, daß Melissa das je erklärt hätte. Irgendwie hat sich in
mir festgesetzt, daß er eingezogen wurde — Korea, Sie wissen schon. Aber das
kann es nicht gewesen sein. Er war schon zu alt für den Militärdienst.«
»Sie haben keine Unterlagen mit dem
Namen des Stiefbruders — den Mietvertrag, zum Beispiel?«
»Nein, diese Unterlagen sind längst
alle weg.«
Wieder eine Sackgasse. Ich seufzte.
»Dieser Roger — was war er für ein Mensch?«
Der Alte sah mich mit wachsamen Augen
an. »Warum fragen Sie mich? Sie haben doch Melissa gefunden. Warum fragen Sie
nicht sie?«
»Weil sie nicht mit mir reden will.
Irgendwer hat ihr Angst eingejagt, große Angst. Ich versuche, ihr zu helfen.«
Er musterte mich wieder einen Moment
lang. Dann nickte er, als habe ihm das, was er sah, eine innere Frage
beantwortet. »Der Stiefbruder war... Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken
soll. Durcheinander, könnte man vielleicht sagen. Ganz sicher ein finsterer
Kerl. Meine Frau hat er nervös gemacht.« Er sah einer Gruppe Kinder nach, die
lärmend über den Rasen lief. »Ich habe seit Jahren nicht mehr an Roger gedacht,
aber jetzt erinnere ich mich genau. Sehr schmal, dunkel, stets unter Spannung.
Sehr finster. Unfreundlich.«
Eine Brise fuhr durch die Zweige über
uns. Die Schatten der Blätter zeichneten dunkle Flecken auf Fabrizios
angestrengtes Gesicht. »Wissen Sie was?« sagte er. »Irgendwie war er mir
unheimlich.«
19
»Wo steckt sie denn nun?« Es war kurz
vor sieben, und Jack marschierte schon seit einer Viertelstunde in der Küche
bei All Souls hin und her. Ab und zu trat er in den Flur hinaus und sah zur
Haustür, wo Rae wohl blieb. Ich war mir nicht sicher, ob ihn der Hunger auf die
Pizza umtrieb, die Rae versprochen hatte, oder das Bestreben, mit der
Vorbereitung des Falles weiterzukommen.
»Vielleicht mußte sie bei Mama Mia’s
lange anstehen«, sagte ich. »Vielleicht verfolgt sie aber auch eine Spur.
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