Letzte Instanz
Was
ist mit Judy? Ich dachte, du wolltest sie herbitten.«
Seine Lippen wurden schmal. »Konnte sie
nicht erreichen.« Fehlte nur noch, daß er gesagt hätte: »Thema beendet.«
Ich stand auf und goß mir etwas von dem
Kaffee ein, der schon den ganzen Nachmittag in der Maschine war und bitter
schmeckte. Ich verzog das Gesicht, trank ihn aber, weil ich den Koffeinstoß
brauchte. Auf dem Rückweg von North Beach hatte ich noch ein paar Dinge
erledigt, die meine anderen Fälle betrafen. Dann war ich zu Hause
vorbeigefahren, um zu sehen, ob dort alles in Ordnung war. Diese Zwangspause,
die uns das Warten auf Rae bescherte, ließ mich spüren, wie wenig Schlaf ich
seit meiner Rückkehr in die City gehabt hatte und wie tief meine Erschöpfung
war.
Jack spähte wieder mal durch die Tür.
»Wenn man darauf wartet, daß die Suppe kocht, kocht sie nie«, sagte ich. Er
starrte mich an, kam aber zurück und setzte sich an den Tisch.
»Wie weit bist du mit den
Polizeiakten?« fragte ich.
»Ich habe kaum damit angefangen. Ich
mache am Abend weiter.«
Die Haustür ging auf, und man hörte
Schritte im Flur. Dann erschien Rae, eine Pizza-Schachtel in der Hand. Jack
wurde aktiv, öffnete die Box und teilte Teller aus. Rae stellte ihren
Aktenkoffer auf den Tisch und schleuderte die Schuhe von den Füßen.
»Wo warst du denn die ganze Zeit?«
fragte ich.
»Im Rathaus — Melde- und Wahlamt.«
»Aber die schließen um fünf.«
»Das Wahlamt nicht — wenn du zufällig
einen tollen Kerl namens Tim, der dort arbeitet, in Verzückung versetzt hast.«
»Und das hast du getan.«
»Darauf kannst du Gift nehmen. Ich bin
eine freie Frau und auf Männerfang.«
Jack stellte die Teller vor uns hin.
»Okay, Tigerin«, sagte er, »was hast du herausbekommen?«
Sie zog einen vollgeschriebenen Block
aus dem Aktenkoffer, setzte sich und blätterte die Seiten durch, während sie
mit der anderen Hand nach einem Stück Pizza griff. Abgelenkt, wie sie war, traf
sie den Mund nicht, und ein Stück Peperoni glitt an ihrer Wange herunter und
landete auf der weißen Bluse. Zurück blieb ein Tomatenfleck.
»Wenn der tolle Tim dich nur so sehen
könnte«, sagte Jack.
Rae pflückte lässig die Peperoni von
der Bluse, steckte sie in den Mund und blätterte weiter in den gelben Blättern.
»Okay«, sagte sie. »Melissa Cardinal, geboren am 11.Januar 1925, Tochter von
Jane Marie und William Albert Cardinal. Totenschein von William Cardinal,
datiert vom 13. Mai 1932, Herzanfall. Zweite Ehe von Jane Cardinal am 8. August
1935 mit Lawrence Robert Woods. Sterbeurkunde der Mutter vom 18. Dezember 1949,
Lungenentzündung. Vom Stiefvater existiert in diesem County keine
Sterbeurkunde. Keine Dokumente über eine weitere Heirat, das gilt auch für
Melissa.«
»Dann hieß der Stiefbruder also
wahrscheinlich Roger Woods«, sagte ich.
Rae sah auf. »Sie hatte einen
Stiefbruder? Hast du das von ihrem ehemaligen Hauswirt?«
»Ja. Was hat das Wahlamt gebracht?«
Sie las aus dem Block vor. Melissas
Mutter hatte als Beruf Hausfrau angegeben, der Vater war Installateur gewesen.
In den sieben Jahren von Melissas Geburt bis zum Tod des Vaters hatten sie drei
verschiedene Wohnungen im Mission District. Melissas Stiefvater hatte ›Arbeiter‹
als Beruf angegeben. Die Familie Woods hatte ganz in der Nähe in der Shotwell
Road in Bernal Heights gewohnt.
Als Rae zu Ende war, fragte ich: »Sonst
noch etwas?«
»Nur noch ihre Parteizugehörigkeit. Die
Cardinais waren Demokraten. Auch Lawrence Woods. Achtundvierzig wechselten er
und Melissas Mutter dann zu den Progressiven, und Melissa tat es ihnen nach.
Danach gibt es keine Eintragungen mehr, weder über den Stiefvater noch über
Melissa.«
»Die Progressive Partei.« Ich sah Jack
an. »Hatte die nicht Henry Wallace als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt?«
Er nickte. »Sieht so aus, als wären die
Woods Linke gewesen.«
»Und sie haben hier in Bernal Heights
gewohnt.« Nach dem, was Adah Joslyn mir über ihre linksgerichteten Eltern
erzählt hatte, hatten die Woods genau dorthin gepaßt. Selbst wenn sie einen
Hauch konservativer gewesen waren.
»Wer war Henry Wallace?« fragte Rae.
Jack starrte sie erstaunt und
mißbilligend an. »Und du nennst dich eine Liberale!«
»Na, wie soll ich das denn wissen?« sagte
sie zu ihrer Rechtfertigung. »Ich bin erst Mitte der Sechziger geboren.«
»Aber du solltest ein wenig Sinn für
Geschichte haben. Ich nehme doch an, du hast von Franklin Delano Roosevelt und
dem New
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