Letzte Nacht in Twisted River
Cousine Maria, auch eine Saetta, hatte einen Calogero geheiratet. Das war ein gängiger sizilianischer Name. »Nach irgendeinem griechischen Heiligen, der da gestorben ist - der Name hat wohl allgemein etwas mit Kindern zu tun, oder vielleicht speziell mit Waisen«, hatte Nunzi Dominic erklärt. Er werde auch als Vorname verwendet, fuhr seine Mutter fort, »vorzugsweise für Bastarde«.
Für den sechzehnjährigen Dominic waren uneheliche Kinder ein heikles Thema - für seine Mutter Annunziata allerdings auch. Ihre Cousine hatte ihre schwangere Tochter nach New Hampshire in die Pampa geschickt. Dabei sei ihre Tochter die erste Frau in der Familie Calogero mit einem Collegeabschluss, hatte sie geklagt. »Es war zwar nur ein Lehrerseminar, und was hat's ihr groß gebracht - sie hat sich trotzdem schwängern lassen!«, erzählte die Mutter des armen Mädchens Nunzi, die diese unsensiblen Worte Dominic hinterbrachte. Auch ohne Einzelheiten zu erfahren, verstand der Junge, dass man ihnen die schwangere Dreiundzwanzigjährige schickte, weil man der Meinung war, Annunziata und
ihr
Bastard säßen im selben Boot wie die werdende Mutter. Sie hieß Rosina, aber noch ehe sie die Reise von Boston nach Berlin, New Hampshire, antrat, war die verstoßene junge Frau (bei Nunzis Faible für Abkürzungen kein Wunder) schon eine Rosie.
Wie es »damals« gang und gäbe war - und zwar nicht nur in Bostons North End und keineswegs nur in italienischen oder anderen katholischen Familien -, schickten die Saettas und Calogeros ein schwarzes Schaf der Familie zu einem anderen. Annunziata hatte also allen Grund, ihrer Bostoner Verwandtschaft doppelt zu grollen. »Lass dir das eine Lehre sein, Dom«, sagte Nunzi. »Wir werden die arme Rosie nicht wegen ihres bedauerlichen Zustandes verurteilen - wir werden sie
lieben,
als wäre nichts geschehen.«
Auch wenn Annunziatas nachsichtige Haltung Lob verdient - zumal 1940, als gerade ledige Mütter in Amerika mit äußerst wenig Nachsicht rechnen konnten -, war es sowohl leichtsinnig als auch überflüssig, ihrem sechzehnjährigen Sohn zu sagen, er solle seine Cousine zweiten Grades
lieben,
»als wäre nichts geschehen«.
»Wieso ist sie meine Cousine
zweiten Grades?«,
fragte der Junge seine Mutter.
»Vielleicht ist das nicht ganz richtig - vielleicht ist sie eigentlich deine
Großcousine
oder so was«, antwortete Nunzi. Da Dominic sie verwirrt ansah, fuhr seine Mutter fort: »Egal, wie man das nennt, sie ist nicht deine richtige Cousine - jedenfalls keine Cousine ersten Grades.«
Für einen verkrüppelten Sechzehnjährigen stellte diese Information (oder Fehlinformation) eine unbekannte Gefahr dar. Sein Unfall, seine Rekonvaleszenz, der Heimunterricht, von seiner neuen Laufbahn als Koch ganz zu schweigen: das alles hatte verhindert, dass er gleichaltrige Freunde fand. Und der »kleine« Dom hatte einen Vollzeitjob, er sah sich schon als jungen Mann. Und jetzt hatte Nunzi ihm erzählt, die dreiundzwanzigjährige Rosie Calogero sei nicht seine »richtige« Cousine.
Als Rosie eintraf, sah man ihr die »anderen Umstände« noch nicht an; das würde sich bald ändern und neue Probleme stellen.
Rosie hatte auf dem Lehrerseminar einen Bachelor-Abschluss in Pädagogik gemacht. Dafür, an einer Grundschule in Berlin, New Hampshire, zu unterrichten, war sie eigentlich überqualifiziert. Doch wenn man der jungen Frau die Schwangerschaft erst einmal ansah, würde sie ihre Stellung vorübergehend aufgeben müssen. »Oder wir müssen einen Ehemann für dich auftreiben, einen echten oder einen imaginären«, hatte Annunziata ihr eröffnet. Zweifellos war Rosie hübsch genug, um einen Mann zu finden, einen
echten -
Dominic fand sie absolut umwerfend -, doch das arme Mädchen wollte sich nicht in die gesellschaftlichen Abenteuer stürzen, die erforderlich waren, um alleinstehende junge Männer kennenzulernen, nicht in ihrem Zustand!
Vier Jahre lang hatte der Junge mit seiner Mutter gekocht. Weil er sich jedes Rezept notierte - von den Rezeptvarianten ganz zu schweigen, die er gelegentlich ohne sie kochte -, übertraf er sie in mancher Hinsicht sogar schon, obwohl er noch lernte. An jenem Abend, der sein Leben für immer verändern würde, kochte Dominic für die beiden Frauen und sich. Er war gerade auf dem besten Weg, sich in dem Frühstückscafe in Berlin einen Namen zu machen, und er kam eine ganze Weile früher nach Hause als Rosie und seine Mom. An den Wochenenden kochte in der Regel Nunzi, doch
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