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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Vielleicht wollte ich noch einmal die Erinnerungen auffrischen, ehe ich wegziehe.« Der letzte Teil stimmte. Außerdem konnte der Schriftsteller einer so
selektiven
Tierfreundin nicht die Geschichte von dem toten Hund erzählen - ganz zu schweigen davon, dass er hier saß und darauf wartete, zu hören, wie sich das Schicksal eines zweiten Hundes entschied -, jedenfalls nicht an einem so tristen Abend, wie Dot und May ihn heraufbeschworen hatten.
    »Du ziehst weg?«, fragte ihn Barrett. »Warum? Ich dachte, dir gefiele es hier - dein Dad ist doch ganz
vernarrt
in sein Restaurant in Brattleboro, stimmt's?«
    »Wir gehen beide. Wir sind ... einsam, schätze ich«, sagte Danny.
    »Erzähl mir mehr«, sagte Barrett; der Gewehrkolben lehnte an ihrem Schenkel, während sie Dannys Hand nahm und sie unter ihren Poncho, zu ihren Brüsten führte. Sie war sehr klein - so zierlich wie Katie, wie Danny jetzt bewusst wurde -, und im silbrig gedämpften Mondlicht, in der fast völligen Dunkelheit des Wageninneren, leuchteten Barretts weiße Haare wie die Haare von Katies Geist.
    »Offenbar wollte ich mich verabschieden«, sagte Danny zu ihr. Das war nicht gelogen - er meinte es ernst. Wäre es nicht tröstlich, in den warmen Armen der grazilen älteren Frau zu liegen und an nichts anderes mehr zu denken?
    »Du bist lieb«, sagte Barrett zu ihm. »Für meinen Geschmack viel zu melancholisch, aber sehr lieb.«
    Danny küsste sie auf den Mund, von ihrem schlohweißen Haarschopf fiel ein gespenstischer Abglanz auf ihr schmales Gesicht, das sie ihm von unten entgegenstreckte, die blassgrauen und eiskalten Augen hatte sie geschlossen. So konnte Danny aus dem offenen Wagenfenster an ihr vorbeischauen; er wollte auf keinen Fall Jimmys Streifenwagen verpassen, falls der auf der Straße vorbeifuhr.
    Wie lange mochte Jimmy brauchen, um einen toten Hund seinem Besitzer zurückzubringen und dem Hippiearschloch die ihm zugedachte Standpauke zu halten?, fragte sich Danny. Wäre der Polizist gezwungen gewesen, Drakes anderen Hund zu erschießen, hätte Danny den Schuss mit ziemlicher Sicherheit bereits gehört; er hatte die ganze Zeit die Ohren gespitzt, sogar während seines Gesprächs mit Barrett. (Sie zu küssen war besser, als zu reden; küssen war leiser. So konnte er den Schuss nicht überhören, falls einer fiel.)
    »Lass uns in mein Haus gehen«, murmelte Barrett und löste sich von ihm. »Ich hab gerade mein Pferd erschossen - ich brauch jetzt ein Bad.«
    »Klar«, sagte Danny, griff aber nicht nach dem Zündschlüssel. Der Streifenwagen war nicht an Barretts Auffahrt vorbeigefahren, und es war kein Schuss gefallen.
    Danny versuchte, sich die beiden vorzustellen, Jimmy und Roland Drake. Vielleicht saßen der Polizist und der Hippie, der kleine Scheißer mit dem Treuhandfonds, am Küchentisch. Danny versuchte sich auszumalen, wie Jimmy den Husky-Schäferhund-Mischling tätschelte oder vielleicht die weichen Hundeohren kraulte - die meisten Hunde mochten das. Doch Danny wollte es nicht gelingen, deshalb zögerte er, den Motor anzulassen. »Was ist?«, wollte Barrett wissen.
    Der Schuss war lauter, als er erwartet hatte; obwohl Drakes Einfahrt drei oder vier Kilometer entfernt war, hatte Danny den Krach von Jimmys Waffe unterschätzt. (Danny hatte geglaubt, der Cop wäre mit einem 38er-Colt bewaffnet, aber da er sich mit Schusswaffen nicht auskannte, wusste er nicht, dass Jimmy die 47jer-Wildey-Magnum bevorzugte, auch bekannt als Wildey Survivor.) Es gab einen gedämpften Knall - sogar lauter als von dem 45er-Colt des Cowboys, wie Danny erst merkte, als Barrett in seinen Armen zusammenzuckte und ihre Finger nach dem Abzug ihres Remington-Gewehrs tasteten, ihn aber nur streiften.
    »Irgendein verdammter Wilderer - ich werd morgen früh Jimmy anrufen«, sagte Barrett. Ihre Anspannung war schon verflogen.
    »Warum Jimmy?«, fragte Danny sie. »Warum nicht den Wildhüter?«
    »Den Wildhüter kannst du vergessen - der Trottel hat Angst vor Wilderern«, antwortete Barrett. »Außerdem kennt Jimmy sämtliche Wilderer. Sie haben alle Angst vor ihm.«
    »Ach«, mehr brachte Danny nicht heraus. Er wusste rein gar nichts über Wilderer.
    Danny ließ den Motor an; er schaltete Scheinwerfer und Scheibenwischer ein, und er und Barrett kurbelten die Scheiben des Wagens hoch. Der Schriftsteller wendete auf der Straße und fuhr die lange Auffahrt zur Pferdefarm hoch - ohne zu wissen, welches Stück des Puzzles fehlte, und ohne sicher zu sein, welcher Teil

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