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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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gedacht?, grübelte Dominic Baciagalupo.)
    Endlich wurde die Ampel grün, und der Koch humpelte über die Yonge Street, wobei er auf die hirnlosen großstädtischen Autofahrer achtete, die verzweifelt nach einer Parklücke vor dem Summerhill-Spirituosenladen oder The Beer Store Ausschau hielten. Wie hatte sein Sohn, der Schriftsteller, diese Gegend doch noch genannt?, versuchte sich der Koch zu erinnern. Genau, jetzt fiel es ihm wieder ein. »Einkaufsviertel für Hedonisten«, hatte Daniel gesagt.
    Es gab dort ein paar schicke Märkte, das stimmte - hervorragendes Obst und Gemüse, frischen Fisch, ausgezeichnete Würste und Fleischsorten, aber alles völlig überteuert, wie der Koch fand -, und jetzt, in der Vorweihnachtszeit, kam es Dominic vor, als ob jeder schlechte Autofahrer der Stadt Schnaps kaufen wollte. (Der Koch nahm seinem geliebten Sohn nicht übel, dass er wieder trank; Daniel hatte seine Gründe.)
    Vom Ontario-See fegte der eisige Wind die Yonge Street herauf, als Dominic sich mit seinen Handschuhen und dem Schlüssel an der verschlossenen Restauranttür abmühte. Die Kellner und das Küchenpersonal betraten die Küche von der Crown's Lane - der parallel zur Yonge Street verlaufenden Gasse hinter dem Restaurant -, doch der Koch hatte einen Schlüssel für die Vordertür. Er drehte dem Wind seinen Rücken zu und öffnete sie nach einigen Schwierigkeiten.
    Im Coos County waren die Winter kälter gewesen - und im Windham County in Vermont auch. Doch die klamme, durch Mark und Bein dringende Kälte des vom See herwehenden Windes erinnerte Dominic Baciagalupo daran, wie sehr er im Bostoner North End gefroren hatte. Allerdings hatte ihn damals Carmella gewärmt, erinnerte er sich. Sie fehlte ihm - nur sie,
nur
Carmella -, doch keine Frau in seinem Leben zu haben störte Dominic seltsamerweise nicht. Nicht mehr, nicht in seinem Alter.
    Warum bloß fehlte ihm Rosie nicht?, fragte sich der Koch auf einmal. »Mittlerweile, Cookie«, hatte Ketchum gesagt, »gibt es manchmal Tage, an denen ich merke, dass sie mir
nicht
fehlt. Kannst du dir das vorstellen?« Ja, musste Dominic zugeben, durchaus. Oder war es die Spannung zwischen ihnen dreien - oder Indianer-Janes strenges Urteil oder dass sie Daniel im Ungewissen gelassen hatten -, worauf Ketchum und der Koch verzichten konnten?
     
    Im Restaurant empfing Dominic der Geruch der »Muttersaucen«, wie sie der junge Küchenchef Silvestro nannte. Der Kalbsjus - die Mutter aller Muttersaucen - war während des gestrigen Abendessens angesetzt worden. Man kochte ihn nicht nur ein-, sondern zweimal auf, ehe er schließlich reduziert wurde. Silvestros andere Muttersaucen waren eine Tomaten- und eine Bechamelsauce. Während Dominic Mantel und Schal aufhängte und halbherzig versuchte, seine durch Joes Lieblingsskimütze verstrubbelten Haare zu glätten, roch er irgendwie
alle
Muttersaucen auf einmal.
    »Den alten Profi« nannten sie ihn in der Küche, obwohl Dominic zufrieden war mit der Rolle als Sous-Chef des meisterlichen Silvestro, der als Saucier amtierte und sich um das Fleisch kümmerte. Kristine und Joyce waren für Suppen und Fisch zuständig - sie waren die ersten
Köchinnen,
mit denen der Koch je gearbeitet hatte -, und Scott machte das Brot und die Desserts. Dominic, der Fastrentner, fungierte in der Küche als Springer; in jeder Station übernahm er Vor- und Nacharbeiten, sprang beispielsweise für Silvestro bei Saucen und beim Fleisch ein. In der Küche nannten sie Dominic auch »unser Mädchen für alles«. Er war viel älter als alle anderen - nicht nur älter als Silvestro, ihr Chefkoch, dieser Teufelskerl, von dem Dominic schwärmte. Silvestro war für ihn wie ein zweiter Sohn, dachte der Koch - was er aber seinem geliebten Daniel nie gesagt hätte.
    Dominic hatte sich auch gehütet, seine väterlichen Gefühle für den jungen Silvestro Ketchum gegenüber zu erwähnen - was wohl daran lag, dass der Waldarbeiter inzwischen ein erfahrener und penetranter Faxer war. Ketchum schickte dem Koch und seinem Sohn ständig Faxe über Gott und die Welt. (Manchmal vergaß er sogar, drauf zuschreiben, an wen das Fax gerichtet war!) Und Ketchums Faxe trafen zu jeder Tages- und Nachtzeit ein; um durchschlafen zu können, sahen sich Danny und sein Dad gezwungen, das Faxgerät in die Küche ihres Hauses zu verbannen.
    Dass Ketchum gegenüber Silvestro Vorbehalte hatte, lag an dessen Namen: Für den Geschmack des alten Holzfällers klang der Name des jungen Chefkochs zu

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