Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
wo der Bär Hero mit den Klauen erwischt hatte, war auf Dauer lädiert. Auch das übel zugerichtete, größtenteils fehlende Ohr war verheilt, doch das Narbengewebe war schwarz und ohne Fell.
    Wer Hero zum ersten Mal sah, fand am befremdlichsten, dass ihm ein Augenlid fehlte - nicht auf der schlechten Seite, der mit dem halben Ohr. Das Lid war Hero bei seiner letzten Auseinandersetzung mit Pams Deutschem Schäferhund abhandengekommen, obwohl Hero - laut Pam - in diesem Entscheidungskampf um die Herrschaft im Zwinger die Oberhand behalten hatte. Sixpack war gezwungen gewesen, den Schäfer einschläfern zu lassen, was sie aber Hero nicht nachtrug. Nach Pams eigener Einschätzung hatten sich die beiden Hunde schon immer und aus tiefstem Herzen gehasst.
    Für den Schriftsteller war der vom Kampf gezeichnete Jagdhund eine lebende Erinnerung an das Coos County, wo man tödlichem Hass generell freien Lauf lassen durfte. (So wie anderswo auch, dachte Danny, wann immer er zufällig einen Blick auf die >Fragen an Ketchum< an seiner Kühlschranktür warf.)
    Im Januar 2004 war die Anzahl der seit Beginn des Krieges im Irak gefallenen US-Soldaten auf 500 gestiegen. »Teufel auch, fünfhundert ist gar nichts - das ist doch erst der Anfang«, glaubte Danny den alten Holzfäller sagen zu hören. »In wenigen Jahren sind wir bei
fünftausend
angelangt, und dann wird uns irgendein Arschloch weismachen wollen, Frieden und Stabilität warteten gleich um die Ecke.«
    »Was hältst du davon, Hero?«, hatte Danny den Hund gefragt, der sofort sein intaktes Ohr aufstellte. »Hätte unser gemeinsamer Freund nicht interessante Dinge zu diesem Krieg erzählt?«
    Danny merkte, wann der Hund zuhörte und wann er tatsächlich schlief. Wenn Hero nur vorgab zu schlafen, folgte einem das lidlose Auge, aber wenn der Hund wirklich tief und fest schlief, schweiften Pupille und Iris des ständig offenen Auges in unbekannte Fernen; die milchig weiße Kugel schaute ins Nichts.
    In Toronto schlief der ehemalige Jagdhund in der Küche auf einem mit Zedernspänen gefüllten Hundebett mit Reißverschluss. Anders als Danny früher gedacht hatte, waren Ketchums Geschichten über Heros Furzen
nicht
übertrieben gewesen. Wenn Hero auf dem Hundebett lag, war sein Lieblingskauspielzeug die alte Scheide von Ketchums größtem Browning-Jagdmesser - dem dreißig Zentimeter langen Monstrum, das der Flößer immer hinter der Sonnenblende auf der Fahrerseite seines Pick-ups aufbewahrt hatte. Die Scheide, die das Öl von Ketchums Schleifstein aufgesogen hatte, roch vielleicht immer noch nach dem erschossenen Bären, der einmal in dem Fahrerhaus des Trucks gesessen hatte; da Hero so neurotisch an der angeknabberten Messerscheide hing, hielt Danny das für wahrscheinlich.
    Das lange Browning-Messer selbst erwies sich als weniger nützlich. Danny hatte das Messer in ein Geschäft für Küchenzubehör gebracht, wo man vergeblich versuchte, es zu schärfen; in dem Bemühen, die letzten Reste von Ketchums Schleiföl zu entfernen, hatte Danny das Messer mehrmals in den Geschirrspüler getan, was die Klinge hatte stumpf werden lassen. Jetzt war das Messer stumpf
und
ölig, und Danny hatte es in einer gut sichtbaren, aber unerreichbaren Ecke seiner Küche aufgehängt, und dort prangte es jetzt, wie ein zeremonielles Schwert.
    Ketchums Gewehre waren ein anderes Thema. Danny hatte sie nicht behalten wollen - nicht in Toronto. Er hatte sie Andy Grant gegeben, mit dem Danny jeden November auf die Hirschjagd ging. Nachdem er Carl getötet hatte, fiel es Danny leichter, Hirsche zu schießen, allerdings weigerte er sich, ein Jagdgewehr zu benutzen. (»Nie wieder«, hatte er zu Andy gesagt.) Stattdessen nahm er Ketchums Remington .30-06 Springfield. In einem Waldgebiet, selbst auf halbwegs kurze Distanz, war es schwieriger, mit diesem kostbaren Sammlerstück einen Hirsch zu treffen, doch der Rückstoß des Karabiners - und der Hall der kurzläufigen Büchse in seinem Ohr - war anders als in Dannys Erinnerungen an das Jagdgewehr.
    Andy Grant kannte die Gegend um Bayfield wie seine Westentasche; er hatte schon als Junge dort gejagt. Doch meist nahm Andy Danny auf die Hirschjagd in ein Gelände mit, das diesem vertrauter war: in die Gegend westlich des Lost Tower Lake, zwischen Payne's Road und Shawanaga Bay. Unweit der winterlichen Schneemobilpiste, und manchmal in Sichtweite des hinteren Stegs auf Charlottes Insel, gab es eine natürliche Schneise - praktisch ein Wildwechsel für Hirsche.

Weitere Kostenlose Bücher