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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Liste mit Fragen an Ketchum. Doch wie eine Liste sah das Ganze nicht aus, da Danny die Fragen nicht ordentlich untereinandergeschrieben hatte. Es waren viele mit Klebestreifen an den Kühlschrank gepappte Zettelchen. Weil Danny jeden Zettel datiert hatte, glich die Kühlschranktür einer Art Chronik zum Fortgang des Irakkrieges. Bald würde der Kühlschrank voll sein.
    Selbst die antiamerikanischsten kanadischen Freunde des Schriftstellers hielten seine Kühlschrankpolitik für eine sinnlose und kindische Fingerübung. (Und für eine Verschwendung von Klebestreifen.) Und in demselben Jahr, als
Im dunklen Restaurant
herauskam, 2001, hatte Danny sich angewöhnt, einen patriotischen Countrymusik-Sender aus den Staaten zu hören. Den Sender fand Danny nur spätnachts; er vermutete, dass das Signal am deutlichsten war, wenn der Wind über den Ontario-See in Richtung Norden wehte.
    Tat Danny das etwa, um sich in eine Wut auf seine
»ehemalige
Heimat« hineinzusteigern? Nein, keineswegs; Danny wünschte bloß, er könnte
Ketchums
Reaktion auf die miese Countrymusik hören. Er sehnte sich danach, den alten Holzfäller sagen zu hören: »Ich verrate dir mal, was mit diesem strunzdummen Patriotismus nicht stimmt: Er ist die pure Selbsttäuschung! Er verkörpert lediglich das amerikanische Bedürfnis, zu
gewinnen.«
Hätte Ketchum nicht vielleicht etwas in der Art gesagt?
    Und jetzt, wo der Irakkrieg schon fast zwei Jahre dauerte, hätte Ketchum nicht auch dagegen gewettert, dass die meisten Amerikaner zu schlecht informiert waren, um zu begreifen, dass dieser Krieg lediglich von dem sogenannten Krieg gegen den Terror
ablenkte -
aber kein Teil dieses vielbeschworenen Krieges war?
    Al-Qaida aufspüren und vernichten - damit hatte Danny kein Problem. »Findet und vernichtet die verdammte Hamas und die Hisbollah gleich mit, wenn ihr schon mal dabei seid!«, hatte Ketchum getobt -, aber Saddams Irak war eine
säkulare
Tyrannei gewesen. Ob die meisten Amerikaner den Unterschied verstanden? Bis wir dort auftauchten, gab es im Irak keine al-Qaida, oder? (Danny wuchs das Ganze rasch über den Kopf, politisch gesehen; er war sich seiner Sache nicht so sicher, wie es Ketchum gewesen war. Und Danny las auch weniger Zeitung als Ketchum.)
    Was hätte der wütende Waldarbeiter aus dem Coos County gesagt, als die Vereinigten Staaten im Mai 2003 das Ende der »Hauptkampfhandlungen« bekanntgaben, keine zwei Monate nach Kriegsbeginn? Eine verlockende Überlegung.
    Die Fragen an Dannys Kühlschrank mochten eine Erinnerung an den Wahnsinn des Krieges sein, doch der Schriftsteller rätselte selbst, warum er eine derart platte Auflistung erstellt hatte; sie diente nur dem Zweck, ihn zu deprimieren.
    Danny konnte sich denken, was Ketchum über die unabhängig voneinander abgegebenen, aber ähnlich klingenden Dementis des US-Außenministers Colin Powell und des britischen Premierministers Tony Blair (die im Mai 2003 hoch und heilig versichert hatten, Geheimdiensterkenntnisse über irakische Massenvernichtungswaffen seien weder verfälscht noch aufgebauscht worden, um den Angriff auf den Irak zu rechtfertigen) gesagt hätte: »Zeigt mir die Waffen, Kerle!«
    Gelegentlich trug Danny die Fragen an Ketchum dem Hund vor. (»Sogar der Hund«, hätte Ketchum möglicherweise gelästert, »ist schlau genug, um zu wissen, wie sich dieser Krieg entwickeln wird.«)
    In der nächsten Schlammperiode wurde Daniel Baciagalupo 63. Er war ein Mann, der sein einziges Kind und seinen Vater verloren hatte, und er lebte allein - noch dazu war er
Schriftsteller. Natürlich
redete Danny mit dem Hund und las ihm vor.
    Hero wiederum schien sich über Dannys exzentrisches Verhalten nicht zu wundern. Der ehemalige Jagdhund war es gewohnt, dass man mit ihm sprach; meistens war es nicht so schlimm, wie von einem Bären in die Mangel genommen zu werden.
     
    Das Alter des Hundes war unklar. Ketchum hatte sich nur vage darüber geäußert, wie alt dieser spezielle Hero war - also wie viele Generationen seit jenem
ersten
»braven Tier« vergangen waren, dessen Platz der jetzige Hero einnahm. An Heros Schnauze gab es mehr graue Haare als früher, doch in dem weißgetupften, blaugrauen Fell des Walker Bluetick gingen die a/fmbedingten grauen Haare unter. Und dass Hero lahmte, ließ sich nicht nur auf sein fortgeschrittenes Alter zurückführen. Die Kratzwunden von dem Bärenangriff waren zwar vor langer Zeit verheilt, auch wenn die Narben noch deutlich zu sehen waren, aber die Hüfte,

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