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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einmal gefragt, die Antwort der jungen Putzfrau aber für nebulös beziehungsweise für einen Scherz gehalten. »Ojibwa-Territorium«, hatte sie gesagt.
    Danny hatte nicht gewusst, was die Frau aus der First Nation damit meinte - vielleicht gar nichts. Er hätte Andy Grant fragen können, woher sie wirklich kam - Andy hatte Danny den Kontakt zu ihr vermittelt -, doch er hatte es auf sich beruhen lassen. Ojibwa-Territorium genügte ihm als Antwort.
    Und den Namen der jungen Frau hatte der Schriftsteller sofort wieder vergessen, falls er ihn je gehört hatte. Zu Beginn des ersten Winters, in dem sie für ihn arbeitete, hatte er einmal bewundernd zu ihr gesagt: »Sie sind unermüdlich.« Damit meinte er, wie sie das Eis aufgehackt und wie viele Eimer Wasser sie aus dem See geholt und für ihn ins Haupthaus gestellt hatte. Die junge Frau lächelte; ihr gefiel das Wort unermüdlich,
tireless.
    »So dürfen Sie mich nennen - bitte nennen Sie mich so«, hatte sie ihn gebeten.
    »Tireless?«
    »So heiße ich«, hatte die Frau aus der First Nation geantwortet. »Genau das bin ich nämlich.«
    Danny hätte Andy Grant auch nach ihrem richtigen Namen fragen können, doch die Frau wollte Tireless genannt werden, und auch das war Danny recht.
    Von seinem Schreibschuppen aus sah er Tireless manchmal, wie sie dem
Inuksuk
ihre Ehrerbietung erwies. Sie verbeugte sich nicht förmlich vor der Steinfigur, sondern wischte respektvoll den Schnee von ihr ab und bezeigte damit eine Art Hochachtung oder Huldigung. Sogar Hero schien die Heiligkeit dieses Augenblicks zu spüren und wahrte bei diesen Gelegenheiten eine merkwürdige Distanz zu Tireless.
    An dem einen Wochentag, wenn Tireless zum Putzen kam, arbeitete Danny genauso gut wie an den Tagen, wenn er mit Hero allein war; die Putzfrau lenkte ihn nicht ab. Es machte ihm auch nichts aus, den schlafenden (und furzenden und schnarchenden) Hero nicht wie gewohnt bei sich im Schreibschuppen zu haben. Wenn Tireless ihre Arbeit im Haupthaus beendet hatte, sah der Schriftsteller sie manchmal plötzlich neben der vom Wind gebeugten kleinen Kiefer stehen. Nie berührte sie das krumme Bäumchen; sie stand einfach nur wie ein Wachtposten neben ihm, und Hero stand neben ihr. Dabei sahen weder die Putzfrau noch der Jagdhund jemals zu Danny herein. Wenn er zufällig aufschaute und sie neben der vom Wetter gebeutelten Kiefer stehen sah, wandten ihm sowohl der Hund als auch die junge Frau den Rücken zu; offenbar spähten sie hinaus auf die zugefrorene Bucht.
    Dann pochte Danny gegen das Fenster, und Tireless kam mit Hero in den Schreibschuppen. Danny verließ den Schuppen (und seine Arbeit), während Tireless dort putzte, was nie lange dauerte - höchstens so lange, wie Danny brauchte, um sich im Haupthaus eine Tasse Tee zu machen.
    Sah man von Andy Grant ab - und den Senioren und Stammgästen, denen Danny gelegentlich in der Bar von Larry's Tavern, im Restaurant The Haven oder im Einkaufsladen begegnete -, war die indianische Putzfrau der einzige Mensch, zu dem Danny während seiner Winter auf der Insel in der Georgian Bay Kontakt hatte. Und in den zehn Wochen, die der Schriftsteller dort war, sahen Danny und Hero Tireless jeweils nur einmal pro Woche. Als Danny eines Tages im Ort war und zufällig Andy Grant über den Weg lief, erzählte er ihm, wie gut sich die junge Frau machte.
    »Hero und ich sind ganz begeistert von ihr«, sagte er. »Sie ist ausgesprochen unkompliziert, und man hat sie gern um sich.« »Klingt, als wolltest du sie
heiraten«,
sagte Andy zu dem Schriftsteller. Es war scherzhaft gemeint, doch Danny merkte, dass er - wenn auch nur kurz - ernsthaft darüber nachdachte.
    Später im Propellerboot - noch ehe Danny den Motor anließ oder Hero die Ohrenschützer aufsetzte - fragte er den Hund: »Findest du, ich sehe einsam aus, Hero? Bestimmt bin ich ein wenig einsam, hm?«
     
    In der Küche von Dannys Haus am Cluny Drive wurde die Politik an der Kühlschranktür immer öder, je weiter das Jahr 2004 voranschritt. Möglicherweise war Politik schon
immer
langweilig gewesen, und Danny hatte es jetzt erst bemerkt. Verglichen mit der privateren und komplexeren Geschichte, die er in seinem neunten Roman entwarf, kamen ihm die Fragen an Ketchum jedenfalls banal und kindisch vor.
    Wie immer begann er mit dem Ende seiner Geschichte. Danny hatte nicht nur den, wie er glaubte, letzten Satz geschrieben, sondern auch eine ziemlich ausgereifte Vorstellung von der Handlung des neuen Romans - seinem

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