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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Hampshire. (»Deine Mom hatte nicht den Körper einer Frau, die auf die dreißig zuging - jedenfalls nicht einer Frau aus dieser Gegend«, sagte Indianer-Jane jedes Mal, wenn sie Dan die Geschichte erzählte.)
    Anscheinend war Ketchum entweder zu alt oder schon zu lädiert, um eingezogen zu werden. Auch wenn Constable Carl ihm erst kürzlich die Platzwunde auf seiner Stirn verpasst hatte, konnte Ketchum schon zahlreiche andere Verletzungen und Verstümmelungen vorweisen - genug, um ihn für den Militärdienst untauglich zu machen, aber nicht genug, um ihn am Tanzen zu hindern. »Deine Mutter hat Ketchum das Lesen
und
Tanzen beigebracht«, hatte der Koch seinem Sohn in einem seltsam neutralen Ton erzählt, als habe er entweder keine Meinung zu dem Thema oder als wisse er nicht, welche dieser erlernten Fähigkeiten beachtlicher oder für Ketchum wichtiger war. Ja, Ketchum war Rosies einziger Tanzpartner gewesen. Er kümmerte sich um sie, als wäre sie seine Tochter, und auf der Tanzfläche wirkte die Frau des Kochs neben Ketchum so klein, dass sie beinahe als sein Kind hätte durchgehen können.
    Wäre da nicht der »denkwürdige Zufall« gewesen, wie Indianer-Jane es Danny gegenüber immer formulierte, dass seine Mom und Ketchum beide 27 waren.
    »Ketchum und dein Dad haben gern zusammen einen gehoben«, erzählte Jane dem Jungen. »Keine Ahnung, warum Männer gern
zusammen
trinken, aber Ketchum und dein Dad machten das ein wenig zu gern.«
    Vielleicht hatte es ihnen das Trinken ermöglicht, über manches zu reden, dachte Danny. Seit Dominic Baciagalupo Abstinenzler geworden war (während Ketchum immer noch soff wie ein junger Flößer), hielten sich die beiden bei Gesprächen eher bedeckt. Sogar der Zwölfjährige wusste, dass vieles ungesagt blieb.
    Laut Ketchum konnten oder sollten »Rothäute« gar nichts trinken. Dass Indianer-Jane nicht trank, war für ihn schlicht und einfach gesunder Menschenverstand. Und doch lebte sie mit Constable Carl zusammen, einem üblen Säufer. Sobald der Tanzsaal und die Wirtshäuser geschlossen hatten, soff sich der Constable in eine streitlustige Stimmung. Es war oft spät, wenn Jane nach Hause kam - sie konnte das Kochhaus erst verlassen, wenn sie die Handtücher gewaschen und in den Trockner in der Waschküche gesteckt hatte. Ob spät oder nicht, manchmal war Constable Carl noch wach und aggressiv, wenn Jane gern schlafen gehen wollte. Schließlich stand sie im Gegensatz zum Constable früh auf.
    »Na ja, es war so«, sagte Indianer-Jane manchmal völlig unvermittelt zu Danny. »Dein Vater vertrug weniger als Ketchum, versuchte aber, mit ihm Schritt zu halten. Deine Mutter war zwar vernünftiger, hat aber auch zu viel getrunken.«
    »Verträgt mein Dad weniger als Ketchum, weil er
kleiner
ist?«, fragte Danny dann Indianer-Jane.
    »Das Gewicht spielt schon eine Rolle«, antwortete die Tellerwäscherin. »Es war nicht das erste Mal, dass Ketchum deinen Dad vom Tanzsaal nach Hause tragen musste. Deine Mom tanzte unterwegs um sie herum, mit ihren hübschen kleinen Do-si-dos.« (Entging Danny hier vielleicht eine Spur Neid oder Sarkasmus, die in Indianer-Janes Formulierung von den »hübschen kleinen Do-si-dos« mitschwingen mochte?)
    Danny wusste, dass Do-si-do eine Schrittfolge beim Squaredance ist. Er hatte Ketchum gebeten, sie ihm zu zeigen, doch der hatte nur den Kopf geschüttelt und war in Tränen ausgebrochen. Jane hatte Danny einen Do-si-do vorgemacht; die Arme unter dem gewaltigen Busen verschränkt, war sie an seiner rechten Schulter vorbeigegangen und hatte ihn umkreist, Rücken an Rücken.
    Der Junge versuchte, sich seine Mutter vorzustellen, wie sie mit Do-si-do-Schritten Ketchum umkreiste, während dieser seinen Dad trug. »Hat Ketchum auch getanzt?«, fragte Danny.
    »Ich nehme es an«, antwortete Jane. »Ich bin erst später zu ihnen gestoßen. Schließlich war ich ja bei
dir,
oder?«
    Am zugefrorenen Flussbecken hörte Rosie Baciagalupo auf, um Ketchum herumzutanzen, und rief etwas über das Eis in Richtung der Berge. Wenn der Twisted River zugefroren war, gab es ein besseres Echo; das Eis warf die Stimme schneller und unverfälschter zurück als das offene Wasser.
    »Ich frage mich, wieso«, sagte Danny dann meist zu Jane.
    »Ich konnte sie vom Kochhaus hören«, fuhr Indianer-Jane fort, ohne je irgendwelche Vermutungen über das Echo anzustellen. »Deine Mom rief: >Ich liebe dich!< Und dein Dad, der über Ketchums Schulter hing, rief zurück: >Ich liebe dich

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