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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ihnen in die Füße oder Knie zu schießen - war fies, funktionierte aber. Wer außer ihm wollte den Leuten schon einen Revolverlauf über den Kopf ziehen oder in Füße und Knie schießen?, fragte sich Danny. Und warum in aller Welt wollte Indianer-Jane, die der Junge anhimmelte, mit einem Cowboy wie Carl zusammenleben?
    »Das Leben hier zwingt zu Kompromissen, Daniel«, sagte der Vater des Jungen oft.
    »Nur eine Frau, die schon nicht mehr schön ist, würde mit Constable Carl zusammenziehen«, hatte Ketchum versucht, dem Jungen zu erklären. »Aber wenn die Frau dann gar nicht mehr schön ist, sucht sich Carl eine andere.«
    Die Küchenhilfen, ganz gewiss aber die Sägewerksarbeiterfrauen, waren allesamt schon nicht mehr schön - das fand jedenfalls Danny Baciagalupo. Auch wenn Indianer-Jane die dickste von allen war, so hatte sie doch ein hübsches Gesicht und prächtiges Haar. Außerdem hatte sie so spektakuläre Brüste, dass Danny es kaum ertrug, an sie zu denken, was natürlich hieß, dass seine Gedanken ständig unwillkürlich und unpassenderweise zu ihnen schweiften.
    »Sind's die
Brüste,
die Männer an Frauen toll finden?«, hatte Danny seinen Vater gefragt.
    »Frag Ketchum«, antwortete der Koch, doch Danny dachte, Ketchum sei zu alt, um sich für Brüste zu interessieren - Ketchum schien Brüste nicht einmal mehr zu bemerken. Zugegeben, Ketchum hatte es im Leben oft schwer gehabt. Er hatte Prügel eingesteckt und sah älter aus, als er war. Ketchum war erst 37, wirkte aber trotz pechschwarzem Haar und Bart viel älter.
    Und Jane - wie alt mochte sie sein?, fragte sich Danny. Indianer-Jane war zwölf Jahre älter als Dannys Dad - sie war 42 -, aber auch sie sah älter aus, als sie war. Und auch sie hatte Prügel eingesteckt, und zwar nicht nur von Constable Carl. Dem Zwölfjährigen kamen alle alt vor oder zumindest älter, als sie waren. Sogar die Jungs in Dannys Schulklasse waren älter.
    »Bestimmt hast du die Nacht prima geschlafen«, sagte Jane zu dem Koch. Sie lächelte Danny an. Als sie hinter sich griff, um die Schürzenbänder um ihre dicke Taille zu binden, dachte der Junge, dass ihre Brüste
riesig
waren. »Hast du denn schlafen können, Danny?«, fragte ihn die indianische Tellerwäscherin.
    »Klar, hab ich«, antwortete der Junge. Er wäre gern mit Jane allein gewesen, weil er sie über seine Mutter ausfragen wollte.
    Davon, wie Ketchum ihre übel zugerichtete Leiche aus dem Überlauf geborgen hatte, konnte Dominic seinem Sohn erzählen; vermutlich, weil Ketchum ihm den wüsten Anblick erspart hatte. Aber über den Unfallhergang konnte Dannys Vater nicht sprechen - zumindest nicht zu seinem Sohn und ganz bestimmt nicht in halbwegs konkreten Einzelheiten. Ketchum brachte es kaum über sich, mehr zu sagen als: »Wir waren alle drei betrunken, Danny.« Und dann: »Dein Dad war betrunken, ich war betrunken, und deine Mom war auch ein wenig betrunken.«
    »Ich war am betrunkensten«, meldete sich dann unweigerlich Dominic. Sein überwältigendes Schuldgefühl war der Grund, weshalb er zu trinken aufgehört hatte - wenn auch nicht sofort.
    »Vielleicht war ich betrunkener als du, Cookie«, sagte Ketchum manchmal. »Schließlich hab ich sie aufs Eis gehen lassen.«
    »Das war meine Schuld«, widersprach der Koch gewöhnlich. »Ich war so betrunken, dass du mich tragen musstest, Ketchum.«
    »Glaub ja nicht, dass ich das nicht mehr weiß«, sagte Ketchum dann. Aber keiner von beiden konnte (oder wollte) sagen, was genau
geschehen
war. Danny bezweifelte, dass ihnen die Einzelheiten entfallen waren; anscheinend konnten sie die Einzelheiten nicht in Worte fassen, oder es war für beide Männer undenkbar, sie einem Kind zu erzählen.
    Indianer-Jane, die nichts getrunken hatte - sie trank nie Alkohol -, erzählte dem Zwölfjährigen die Geschichte. Sooft der Junge sie auch fragte, sie erzählte ihm jedes Mal dieselbe Geschichte. Deshalb wusste er, dass sie wahr sein musste.
     
    Jane war an jenem Abend Dannys Babysitterin gewesen; Danny war damals zwei. Samstagabends wurde im Tanzsaal getanzt, und zwar gab es zu der Zeit
richtige
Tänze, auch Squaredance. Dominic Baciagalupo tanzte nicht; mit seinem Hinken ging das nicht. Doch seine etwas ältere Frau - von Ketchum »Cousine Rosie« genannt - war eine begeisterte Tänzerin, und der Koch sah ihr gern beim Tanzen zu. Rosie war hübsch und klein, ebenso schmal wie zierlich, ganz anders als die meisten ihrer Altersgenossinnen in Twisted River und Paris, New

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