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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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von Stamm zu Stamm ans Ufer, wobei er manchmal auf eine Eisscholle statt auf einen Baumstamm trat, so dass sein Bein einsank und bis zum Oberschenkel nass wurde.
    »Arschlöcher!«, schrie Indianer-Jane vom Flussufer aus - ihnen beiden, allen dreien zu. »Arschlöcher! Arschlöcher!«, rief sie immer wieder und weinte und weinte.
    Der Koch war nass, unterkühlt, er zitterte, und er klapperte mit den Zähnen, doch Ketchum und Jane verstanden ihn ganz gut. »Sie kann nicht weg sein, Ketchum - sie kann doch nicht einfach so
verschwinden
!
«
    »Aber genauso war's, Danny«, erzählte die Tellerwäscherin dem Jungen. »Schneller, als sich der Mond hinter eine Wolke schieben kann - so schnell war deine Mutter verschwunden. Und als wir ins Kochhaus zurückkamen, warst du hellwach und hast geschrien - es war schlimmer als jeder Alptraum, den ich je bei dir erlebt habe. Ich nahm das als Zeichen, dass du irgendwie wusstest, dass deine Mom nicht mehr da war. Ich brachte dich nicht dazu, mit dem Weinen aufzuhören - dich nicht und deinen Vater auch nicht. Ketchum hat sich ein Hackebeil gegriffen. Er stand einfach nur da, in der Küche, die linke Hand auf ein Schneidebrett gelegt, das Beil in der Rechten. >Lass es<, hab ich gesagt, doch er hat immer nur seine auf dem Schneidebrett liegende linke Hand angestiert - und sich womöglich vorgestellt, sie wäre nicht mehr da. Ich ließ ihn stehen, um mich um dich und deinen Dad zu kümmern. Als ich wieder in die Küche kam, war Ketchum weg. Ich habe überall nach seiner linken Hand gesucht, ich war mir sicher, ich würde sie irgendwo finden. Ich wollte nicht, dass du oder dein Vater sie findet.«
    »Aber er hat sich die Hand doch nicht abgehackt!«, unterbrach Danny sie jedes Mal.
    »Tja, also, nein - hat er nicht«, bestätigte Jane einigermaßen gereizt. »Dir ist doch hoffentlich aufgefallen, dass Ketchum seine linke Hand noch hat, oder?«
    Manchmal, besonders wenn Ketchum betrunken war, das hatte Danny bemerkt, starrte der Holzfäller seine linke Hand an; genauso hatte er letzte Nacht seinen Gips angestarrt. Hätte Indianer-Jane gesehen, wie Ketchum seinen Gipsarm anstarrte, hätte sie das vielleicht als Zeichen dafür aufgefasst, dass Ketchum immer noch daran dachte, sich die Hand abzuhacken. (Aber warum die
linke?,
fragte sich Danny. Ketchum war Rechtshänder. Wenn man an Selbsthass litt, wenn man sich
wirklich
selbst bestrafen wollte oder sich schuldig fühlte, würde man sich dann nicht die
gute
Hand abhacken?)
     
    Geschäftig liefen sie in der Küche hin und her - all die dicken Frauen und der schlanke Koch mit seinem Sohn. Man ging nicht hinter jemandem vorbei, ohne »Achtung, hinter dir!« zu rufen oder der Person die Hand auf den Rücken zu legen; die Frauen der Sägewerksarbeiter tätschelten Danny bei der Gelegenheit häufig den Po. Die eine oder andere gab auch dem Koch einen Klaps, aber nur wenn Indianer-Jane nicht hinsah. Danny war aufgefallen, wie oft sich Jane zwischen seinen Vater und die Küchenhilfen stellte, vor allem in dem schmalen Handtuch von einem Durchgang zwischen Herd und Arbeitsplatte, der noch schmaler wurde, sobald man die Herdklappen öffnete. Es gab in dieser Küche noch andere Engpässe, die für Köche und Kellnerinnen eine Herausforderung waren, doch der Durchgang zwischen Herd und Arbeitsplatte war besonders eng.
    Ketchum war zum Pinkeln ins Freie gegangen - eine Angewohnheit aus seiner Waniganzeit, die er offenbar nicht ablegen konnte -, während Indianer-Jane in den Speisesaal ging, um die Tische zu decken. In jener »guten alten Zeit« der mobilen Holzarbeiterlager hatte Ketchum die Flößer und die anderen Holzarbeiter gern geweckt, indem er gegen die metallene Verkleidung der Schlaf-Wanigans pisste. »Ein Wanigan ist in den Fluss gefallen!«, brüllte er dabei oft. »Gott im Himmel - er driftet ab!« Worauf aus dem Inneren der Behausungen ein Schwall wüster Beschimpfungen folgte.
    Ketchum schlug auch gern mit einem Flößerhaken gegen die metallene Verkleidung der Schlaf-Wanigans. »Lasst den Bären nicht rein!«, grölte er dazu. »O Gott - er hat eine der Frauen! O Gott - lieber Gott,
nein!«
    Danny schöpfte den warmen Ahornsirup aus der großen Kasserolle auf der hinteren Herdflamme in die Krüge. Eine der Sägewerksarbeiterfrauen war dem Jungen von hinten förmlich auf die Pelle gerückt. »Achtung, hinter dir, Süßer!«, sagte die Frau mit heiserer Stimme. Sein Dad war gerade damit beschäftigt, das Bananenbrot in die Eierpampe zu

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