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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Damms finden würden, oder im Gegenteil hoffte, dass sie den Leichnam des Jungen nicht finden würden. Eines hatte der Koch entschieden: Daniel sollte Angels Leiche nicht sehen. Aber Dominic Baciagalupo war sich nicht sicher, ob er Angels Leiche sehen oder den Jungen überhaupt finden wollte.
    Das Wasser in dem Topf, in dem der Koch die Eier mit ein wenig Essig pochiert hatte, kochte wieder. Zum Frühstück hatte er das Lammhaschee mit den pochierten Eiern serviert, doch zum Mittagessen gab es das Haschee nur mit reichlich Ketchup; pochierte Eier ließen sich nicht gut transportieren. Als das Essigwasser kochte, goss Dominic es über die Schneidebretter, um sie zu sterilisieren.
    Eine der Sägewerksarbeiterfrauen hatte mit dem vom Frühstück übriggebliebenen Schinkenspeck sowie mit Salat und Tomatenscheiben etwa fünfzig Sandwiches belegt. Jetzt aß sie eines der Sandwiches und musterte dabei den Koch - sie führte irgendwas im Schilde, irgendeine Teufelei, das merkte Dominic. Sie hieß Dot, »Pünktchen«. Für ein Dot war sie viel zu unförmig, und sie hatte so viele Kinder, dass sie ihm wie eine Frau vorkam, der von all ihren Fähigkeiten nur noch ihr Appetit geblieben war, und daran dachte der Koch nur sehr ungern. (Sie hatte Appetit auf zu viele
verschiedene Dinge,
ahnte Dominic.)
    Die Küchenhilfe mit dem Bratenwender - die vergessen hatte, das Wurstbrät auf dem Backblech zu zerkleinern - war anscheinend in den Streich eingeweiht, denn auch sie ließ den Koch nicht aus den Augen. Da Dot den Mund voll hatte, sprach die Frau mit dem Bratenwender zuerst. Sie hieß May, war noch dicker als Dot und zum zweiten Mal verheiratet. Mays Kinder mit ihrem zweiten Mann waren genauso alt wie ihre Enkel - also wie die Kinder ihrer Kinder aus erster Ehe -, und dieses unnatürliche Phänomen hatte May
und
ihren zweiten Mann dermaßen aus der Bahn geworfen, dass sie sich angesichts der schieren Seltsamkeit ihres Lebens nicht einmal mehr gegenseitig trösten konnten.
    Unnatürlich fand Dominic, dass May pausenlos darüber jammern musste, dass sie Kinder hatte, die gleich alt waren wie ihre Enkel. Warum war das so ein Problem?, hatte sich der Koch gefragt.
    »Schau sie dir doch
an«,
hatte Ketchum gesagt. Er meinte May. »Für sie ist
alles
ein Riesenproblem.«
    Schon möglich, überlegte der Koch, als May mit dem Bratenwender auf ihn zeigte. Verführerisch mit den Hüften wackelnd, säuselte sie: »O Cookie, ich würde mein erbärmliches Leben hinter mir lassen - wenn du mich nur heiraten und auch noch bekochen würdest!«
    Dominic bearbeitete gerade mit einer langstieligen Spülbürste die im heißen Essigwasser eingeweichten Schneidebretter; von den Essigdämpfen tränten ihm die Augen. »Du bist schon verheiratet, May«, sagte er. »Wenn du mich heiraten würdest und wir Kinder bekämen, hättest du Kinder, die
jünger
als deine Enkel wären. Nicht auszudenken, wie du dich
dann
fühlen würdest.«
    Diese Vorstellung schien May ernsthaft zu schockieren. Vielleicht hätte er dieses Tabuthema nicht ansprechen sollen, dachte der Koch. Doch Dot, die immer noch auf ihrem Sandwich kaute, lachte mit vollem Mund - und verschluckte sich prompt, sie begann zu würgen. Die Küchenhilfen, einschließlich May, standen da und warteten, dass der Koch etwas unternahm.
    Dominic Baciagalupo hatte Erfahrung mit Erstickungsanfällen. Er hatte eine Menge Holzfäller und Sägewerksarbeiter erlebt, die an Essen zu ersticken drohten - er wusste, was zu tun war. Vor Jahren hatte er eine der Frauen aus dem Tanzsaal gerettet. Sie war betrunken gewesen und drohte an ihrem eigenen Erbrochenen zu ersticken, doch der Koch hatte gleich gehandelt. Die Geschichte war berühmt. Ketchum hatte sie »Wie Cookie Sixpack-Pam rettete« getauft. Die Frau war so groß und grobknochig wie Ketchum, und Ketchum hatte Dominic helfen müssen, um sie erst auf die Knie und dann auf alle viere zu zwingen, damit der Koch seine Variante des Heimlich-Handgriffs vornehmen konnte. (Sixpack-Pam wurde so genannt, weil ein Sechserpack nach Ketchums Schätzung ihrem abendlichen Bierkonsum entsprach - ehe sie sich den ersten Bourbon genehmigte.)
    Dr. Heimlich wurde 1920 geboren, doch 1954 war sein heute berühmter Handgriff im Coos County noch nicht bekannt. Dominic Baciagalupo hatte da schon vierzehn Jahre lang hungrige Esser bekocht. Zahllose Menschen hatten vor seinen Augen Erstickungsanfälle bekommen, drei waren gestorben. Der Koch hatte die Erfahrung gemacht, dass es nicht immer

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