Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
nach Hause kam, oder irgendein anderer nächtlicher Besucher.
    »Ist nur der Wind!«, rief Indianer-Jane ihm vom anderen Ende des Flurs zu. Seit der Geschichte mit dem Bären fürchtete sich der Junge vor Eindringlingen, das wusste sie.
    Jane ließ ihre Schuhe oder Stiefel immer unten stehen und kam auf Socken die Treppe herauf. Wäre sie nach unten gegangen, hätte Danny die Stufen unter ihrem Gewicht knarren hören, aber Jane musste oben geblieben sein, bewegte sich in ihren Socken so lautlos wie ein nachtaktives Tier. Später hörte Danny im Bad Wasser laufen; er fragte sich, ob sein Vater nach Hause gekommen war, war aber zu müde, um aufzustehen und nachzusehen. Der Junge blieb liegen und lauschte dem Wind und dem allgegenwärtigen Tosen des Wassers. Als ihn wieder jemand auf die Stirn küsste, schlief der Zwölfjährige zu tief, um sagen zu können, ob es sein Dad oder Indianer-Jane gewesen war - oder ob er nur träumte, geküsst worden zu sein, und zwar diesmal von Sixpack-Pam.
     
    Als Pam so mit großen Schritten durch den Ort stapfte - wobei der Koch wie ein treuer, aber ramponierter Hund hinter ihr herhinkte -, wirkte sie viel zu respektgebietend und zielstrebig, als dass irgendwer auch nur im Traum daran gedacht hätte, sie zu küssen oder von ihr geküsst zu werden. Der Koch jedenfalls träumte nicht davon - nicht bewusst zumindest.
    »Nicht so schnell, Sixpack«, sagte Dominic, doch entweder trug der Wind seine Worte davon, oder Pam machte absichtlich noch längere Schritte.
    Der Wind grub Furchen in den zwei Stockwerke hohen Turm aus Sägemehl vor dem Sägewerk, und es wehte ihnen in die Augen. Es war leicht entflammbar, was Ketchum »ein potentielles Inferno« nannte - besonders in dieser Jahreszeit. Man würde den Sägemehlhaufen, der sich im Winter angesammelt hatte, erst wegfahren, wenn die Holzabfuhrstraßen am Ende der Schlammperiode wieder hart wurden. Erst dann würde man es mit Lkws wegschaffen und an die Bauern im Tal des Androscoggin verkaufen. (Natürlich gab es im Inneren des Werks noch mehr davon.) Ein Sägemehlbrand würde den gesamten Ort in Schutt und Asche legen; nicht einmal das Kochhaus auf seinem Hügel gleich bei der Flussbiegung würde verschont bleiben, weil Hügel und Kochhaus vom Fluss her die volle Wucht des Windes abbekämen. Die größeren, am hellsten glimmenden Holzstücke würden aus dem Ort hinaufgeweht werden.
    Doch das Haus, auf dessen Errichtung der Koch bestanden hatte, war das stabilste in der Siedlung Twisted River. Die Absteigen und Saloons - selbst das Sägewerk und der sogenannte Tanzsaal - wären lediglich Zunder für einen Sägemehlbrand, wie ihn sich der Untergangsprophet Ketchum in seinen Träumen von jederzeit drohenden Katastrophen ausmalte.
    Möglicherweise träumte Ketchum sogar jetzt, auf dem Klo. Jedenfalls stellte sich das Dominic Baciagalupo vor, während er krampfhaft versuchte, mit Sixpack-Pam Schritt zu halten. Sie kamen an der Bar in der Nähe der Absteige vorbei, die die frankokanadischen Wanderarbeiter bevorzugten. In der schlammigen Gasse neben dem Tanzsaal stand eine Lombard-Dampflok aus dem Jahre 1912, die schon so lange dort parkte, dass der Tanzsaal inzwischen abgerissen und um sie herum neu aufgebaut worden war. (In den 1930er Jahren waren diese Loks, mit denen man die holzbeladenen Schlitten durch die Wälder zog, von benzinbetriebenen Rückezügen abgelöst worden.)
    Sollte der Ort einmal brennen, überlegte Dominic, wäre die alte Lombard-Dampflok vielleicht das Einzige, was von ihm übrigblieb. Als der Koch jetzt die Lombard betrachtete, sah er zu seiner Überraschung, dass auf dem Vordersitz über den Schlittenkufen die Beaudette-Brüder schliefen; oder sie waren tot.
    Vielleicht hatte man sie aus dem Tanzsaal geworfen, und sie waren hier eingepennt (oder abgeladen worden).
    Dominic verlangsamte den Schritt, als er an den vornüber zusammengesackten Brüdern vorbeihumpelte. Pam hatte sie auch gesehen, hielt aber nicht an. »Die erfrieren schon nicht - es schneit ja nicht mal«, sagte Sixpack.
    Vor dem nächsten Saloon standen vier oder fünf Männer herum und sahen einer halbherzigen Schlägerei zu. Earl Dinsmore und einer der Beebe-Zwillinge hatten sich schon so lange geprügelt, dass sie ihre besten Schläge verbraucht hatten, vielleicht waren die Männer aber auch von vornherein zu betrunken gewesen. Offenbar konnten sie einander nicht mehr weh tun - wenigstens nicht absichtlich. Der andere Beebe-Zwilling zettelte plötzlich, sei

Weitere Kostenlose Bücher