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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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und waren zufrieden wieder gegangen. Danny, sein Dad und Jane näherten sich dem Ende ihrer Samstagabendschicht, als der Luftzug von der plötzlich aufgestoßenen Speisesaaltür noch einen späten Gast im Kochhaus ankündigte.
    Aus der Küche konnte Jane nicht sehen, wer es war. Sie rief in die Richtung, aus der der Windstoß kam: »Zu spät! Abendessen ist vorbei!«
    »Ich hab keinen Hunger«, sagte Sixpack-Pam.
    Und wirklich, nichts an Pams Erscheinung deutete auf übermäßigen Appetit hin. Das spärliche Fleisch schlabberte an ihren großen Knochen, und ihr hageres, wildes Gesicht, verhärmt und schmallippig, ließ eher an eine Bierdiät denken als an einen Hang zu Fressattacken. Dennoch war sie groß und breitschultrig genug, um Ketchums Wollflanellhemd zu tragen, ohne darin verloren auszusehen, und ihre strubbeligen blonden Haare mit den grauen Strähnen wirkten sauber, aber ungepflegt, so wie ihre ganze Person. Die Taschenlampe in ihrer Hand war so groß wie ein Gummiknüppel. (Die Straßenbeleuchtung in Twisted River ließ zu wünschen übrig.) Nicht einmal die Ärmel von Ketchums Hemd waren ihr zu lang.
    »Soso, du hast ihn also umgebracht und dir seine Klamotten unter den Nagel gerissen«, sagte der Koch und musterte sie misstrauisch.
    »Ich hab auch keinen Erstickungsanfall, Cookie«, entgegnete Pam.
    »Diesmal
nicht, Sixpack!«, rief Jane aus der Küche. Offenbar, stellte Danny fest, kannten die Frauen einander gut genug, dass Jane Pam an der Stimme erkannt hatte.
    »Ziemlich spät dafür, dass sich das Personal noch hier rumtreibt, oder?«, fragte Pam den Koch.
    Dominic registrierte Sixpacks besondere Sorte Trunkenheit mit Neid und einem Anflug von Nostalgie, der ihn überraschte - die große Frau vertrug Bier und Bourbon besser als Ketchum. Jane war mit einem Nudeltopf unter dem Arm aus der Küche gekommen, die Öffnung wie eine Kanonenmündung auf Pam gerichtet.
    In seinem präsexuellen Zustand von einem Drittel Erregung und zwei Dritteln Vorahnung fiel Danny Ketchums Bemerkung darüber ein, wie Frauen ihre Schönheit verloren und wie Constable Carl auf diese unterschiedlichen Stadien reagierte. Für den Zwölfjährigen hatte Jane ihre Schönheit
nicht
verloren - noch nicht ganz. Ihr Gesicht war immer noch hübsch, sie hatte einen umwerfend langen Zopf, und noch mehr glänzten die vielen rabenschwarzen Haare in seiner Phantasie, wenn sie den Zopf löste. Auch ihre enormen Brüste waren nicht zu verachten.
    Sixpack-Pams Anblick wiederum brachte Danny zwar auf andere, aber auch wieder ähnliche Weise aus dem Gleichgewicht: Sie sah so gut, das heißt kraftstrotzend, aus wie ein Mann, und das Weibliche an ihr hatte etwas Rauhes - wie sie zum Beispiel unbekümmert Ketchums Hemd übergestreift hatte, ohne bh, so dass ihre locker hängenden Brüste den Stoff wölbten ... Jetzt huschte ihr Blick von Jane zu Danny und verharrte dann jungmädchenhaft verwegen, aber auch etwas nervös, auf dem Koch.
    »Ich brauche deine Hilfe mit Ketchum, Cookie«, sagte Pam. Dominic fürchtete schon, Ketchum könnte einen Herzinfarkt oder Schlimmeres gehabt haben. Er hoffte, Sixpack würde dem jungen Daniel die schrecklichen Einzelheiten ersparen.
    »Ich
kann dir mit Ketchum helfen«, bot Indianer-Jane an. »Bestimmt ist er irgendwo zusammengeklappt - in dem Fall kann ich ihn eher tragen als Cookie.«
    »Er ist nackt auf dem Klo zusammengeklappt, und ich hab bloß ein Klo«, sagte Pam zu Dominic, ohne Jane anzusehen.
    »Hoffentlich hat er nur gelesen«, erwiderte der Koch.
    Ketchum arbeitete sich unermüdlich durch Dominics Bücher, die eigentlich dessen Mutter und Rosie gehört hatten - ihre geliebten Romane. Für einen Mann, der in Dannys Alter schon nicht mehr auf der Schule war, verschlang Ketchum die geborgten Bücher mit einer an Wahnsinn grenzenden Verbissenheit. Wenn er dem Koch die Bücher zurückgab, waren auf fast jeder Seite Wörter umkringelt - es gab keine unterstrichenen Passagen, auch keine ganzen Sätze, sondern nur einzelne Wörter. (Danny fragte sich, ob seine Mom Ketchum so das Lesen beigebracht hatte.)
    Einmal hatte der Junge eine Liste der Wörter erstellt, die Ketchum in dem Exemplar von Hawthornes
Der scharlachrote Buchstabe
umkringelt hatte, das einmal seiner Mutter gehört hatte. Zusammengenommen ergaben die Wörter überhaupt keinen

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