Letzte Nacht in Twisted River
das Wasser und einige wenige Stämme gegen den Uhrzeigersinn. Ein Hirschlederhandschuh wirbelte im Wasser, doch beide wussten, dass Angel keine Handschuhe getragen hatte. In dem tiefen, dunklen Wasser trieben Rindenstücke; zu Dominics Enttäuschung und Erleichterung sahen sie auch dort keine Leiche.
»Vielleicht hat es Angel ja
rausgeschafft«,
sagte Danny, doch sein Dad wusste es besser. Noch nie war so ein junger Bursche unter treibende Baumstämme geraten und hatte es
rausgeschafft.
Es war inzwischen nach sieben Uhr, doch sie durften die Suche nicht aufgeben. Selbst die Familie, vor der Angel davongelaufen war, würde wissen wollen, was mit ihrem Jungen passiert war. Das andere Ende des Sägewerkteichs, weiter weg von der Staumauer, abzusuchen würde länger dauern, allerdings hätten sie dort einen besseren Stand. Je näher sie Damm und Sperranlage kamen, desto mehr Sorgen machten sich Vater und Sohn umeinander. (Sie trugen keine Flößerstiefel mit Nagelsohlen, sie waren nicht Ketchum - sie waren nicht mal Flößer der unerfahrensten Sorte. Sie waren schlicht und einfach keine Holzarbeiter.)
Es wurde halb acht, bis sie Angels Leiche fanden. Der langhaarige Junge in seinem rotweißgrün karierten Hemd trieb mit dem Gesicht nach unten im ufernahen Flachwasser - allein, kein einziger Baumstamm weit und breit. Danny musste sich nicht einmal die Füße nass machen, um die Leiche ans Ufer zu holen. Der Zwölfjährige hakte einfach einen abgefallenen Ast in Angels Schottenhemd und zog den Jungen zu sich heran, dann rief er nach seinem Vater. Gemeinsam hoben sie Angel ans Ufer. Verglichen mit der Plackerei, die sie mit Indianer-Jane gehabt hatten, war das ein Kinderspiel.
Sie schnürten Angels Nagelstiefel auf und verwendeten einen davon als Eimer, um frisches Wasser an Land zu holen. Damit wuschen sie dem jungen Flößer den Schlamm und die Rindenstückchen von Gesicht und Händen; seine Haut schimmerte perlmuttfarben, mit einem leichten Blaustich. Danny fuhr dem toten Jungen mit den Fingern durch die Haare.
Er entdeckte auch als Erster einen Egel. Der hatte sich an Angels Hals festgesaugt, war etwa so lang und dick wie Ketchums seltsam schiefer Zeigefinger und von der Sorte, die die Einheimischen >Nordegel< nannten. Es war garantiert nicht der einzige Egel auf Angel, dachte der Koch. Er wusste auch, dass Ketchum Blutegel hasste. So wie sich alles entwickelte, würde Dominic seinem alten Freund den Anblick von Angels Leiche wohl nicht ersparen können, doch - mit Daniels Hilfe - ersparte er ihm hoffentlich zumindest die Blutegel.
Um neun hatten sie Angel zu dem Ladesteg am Sägewerk geschafft, der wenigstens trocken war und teilweise in der Sonne lag und den man vom Parkplatz aus sehen konnte. Sie hatten den Leichnam entkleidet und fast zwanzig Egel entfernt. Dann hatten sie Angel mit seinem nassen karierten Hemd saubergerieben und den toten Jungen mit unauffälligen Kleidungsstücken des Kochs und seines Sohnes neu eingekleidet. Ein T-Shirt, das Danny immer zu groß gewesen war, passte Angel gut; Dominics alte Latzhose rundete das Bild ab. Ketchum zuliebe - falls der je auftauchte - trug der Junge jetzt wenigstens saubere und trockene Klamotten. Gegen Angels perlgraue, bläulich getönte Haut konnten sie nichts machen; selbstredend konnte die schwache Aprilsonne dem toten Jungen nicht seinen natürlichen Teint zurückgeben, aber irgendwie sah Angels Haut zumindest warm aus.
»Warten wir auf Ketchum?«, fragte Danny seinen Dad, dem er die Besorgnis anmerkte.
»Nur noch ein paar Minuten«, antwortete der Koch. (Eins ließ sich über die Zeit sagen, wie Dominic wusste: Sie war unerbittlich.)
Als der Koch Angels tropfnasse und schmutzige Klamotten auswrang, ertastete er in der linken Latzhosentasche des Kanadiers das Portemonnaie - nur eine billige Geldbörse, Lederimitat, mit dem Foto einer hübschen, mollig wirkenden Frau unter einem Plastikfensterchen, das jetzt beschlagen war, weil es in dem kalten Wasser gelegen hatte. Dominic rieb das Plastik über seinen Hemdsärmel; als er die Frau deutlicher sah, war ihre Ähnlichkeit mit Angel offenkundig. Bestimmt war sie die Mutter des toten Jungen, ein wenig älter als der Koch, aber jünger als Indianer-Jane.
Viel Geld war nicht in dem Portemonnaie - nur ein paar kleine Scheine, ausschließlich amerikanische Dollars (Dominic hatte erwartet, auch einige kanadische Dollars zu finden), und etwas, was wie die Visitenkarte eines Restaurants aussah, mit einem
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