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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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massigen Körper weiter in die Küche hinein. Er konnte nur hoffen, dass der Junge seine Anweisungen befolgte. »Wenn du einen Schuss hörst, geh zu Ketchum! Und wenn du länger als zwanzig Minuten im Pontiac auf mich gewartet hast - auch wenn
kein
Schuss fällt -, geh zu Ketchum!«
    Dominic hatte seinem Jungen eingeschärft: Wenn seinem Dad jemals - nicht nur in dieser Nacht - etwas zustoßen sollte, müsse Danny zu Ketchum gehen und diesem alles erzählen. »Und achte bei Pams Treppe auf die zweitoberste Stufe«, hatte der Koch hinzugefügt.
    »Wird Sixpack nicht auch da sein?«, hatte der Junge gefragt.
    »Sag ihr einfach, du musst mit Ketchum reden. Dann lässt sie dich rein«, hatte Dominic gesagt. (Er konnte nur
hoffen,
dass Pam Danny einlassen würde.)
    Dominic Baciagalupo schob Indianer-Janes Leiche über den feuchten Küchenboden und lehnte sie dann vorsichtig gegen einen Schrank. Er hielt sie unter den Armen und ließ ihr enormes Gewicht auf die Arbeitsplatte sinken und von dort dann wie in Zeitlupe zu Boden gleiten. Als der Koch sich über sie beugte, fiel ihm die Cleveland-Indians-Mütze vom Kopf und landete verkehrt herum neben Jane. Dominic starrte Häuptling Wahoos irres Grinsen an, während er auf das typische Klicken wartete, das der 45er-Colt beim Spannen machte und mit dem er jeden Moment rechnete; dann würde Danny mit Sicherheit den Schuss hören, denn die Waffe war mehr als laut. Einen Schuss würde um diese Uhrzeit jeder im Ort hören, vielleicht sogar Ketchum, der seinen Rausch ausschlief. (Gelegentlich hatte Dominic den 45er Colt sogar vom Kochhaus aus gehört.)
    Doch nichts passierte. Der Koch atmete wieder normal und beschloss, sich nicht umzublicken. Falls Constable Carl da war, wollte Dominic ihn nicht sehen. Lieber würde er sich vom Cowboy beim Hinausgehen in den Rücken schießen lassen. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen, wobei er mit seiner verdrehten linken Stiefelspitze seine schlammigen Fußspuren verwischte.
    Auf der Straße vor dem Haus lag eine Holzplanke quer über einer Abflussrinne. Mit dieser Planke verwischte Dominic die Rillen, die Janes Stiefelabsätze auf dem mühevollen Weg von ihrem Pick-up zur Küchentür des Constable hinterlassen hatten. Dann legte der Koch die Planke an ihren Platz zurück und wischte sich an der nassen Stoßstange von Janes Truck den Schlamm von den Händen; der Dauerregen würde ihn anschließend abwaschen. (Der Regen würde auch seine und Dannys Fußspuren beseitigen.)
    Keiner sah den Koch an dem leeren Tanzsaal vorbeihumpeln; die Brüder Beaudette (oder ihre Geister) hatten sich nicht wieder in die alte Lombard-Lok gesetzt, die als einsamer Wachtposten in der schlammigen Gasse nebenan stand. Dominic Baciagalupo überlegte, wie sich Constable Carl Indianer-Janes Leiche erklären würde, wenn er am Morgen übernächtigt darüberstolperte. Womit er sie wohl geschlagen hatte?, würde der Cowboy vielleicht überlegen, schließlich hatte er sie schon öfter geschlagen. Aber wo war die Waffe, der stumpfe Gegenstand?, würde sich der Constable als Nächstes fragen. Vielleicht habe nicht
ich
sie geschlagen, würde der Cowboy später folgern - sobald er wieder einen klaren Kopf hatte oder spätestens wenn er erfuhr, dass der Koch und sein Sohn den Ort verlassen hatten.
    Bitte, Gott, schenk mir
Zeit,
dachte der Koch, als er das Gesicht seines Jungen hinter der nassen Windschutzscheibe des Chieftain Deluxe sah. Danny wartete auf dem Beifahrersitz, als hätte er nie daran gezweifelt, dass sein Vater wohlbehalten aus Constable Carls Haus zurückkommen und sich hinters Steuer setzen würde.
    Zeit,
diese unerbittliche Begleiterin ... Dominic Baciagalupo meinte nicht nur die Zeit, die sie brauchten, um hier und jetzt zu fliehen, sondern auch die, die nötig war, um seinem geliebten Sohn ein guter Vater zu sein, die Zeit, um zu erleben, wie sein Junge zum Mann heranwuchs. Der Koch betete, dass ihm
diese Zeh
vergönnt sein würde, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte.
    Auch als er sich hinters Steuer seines Kombis setzte, traf ihn keine Kugel vom Kaliber 45. Danny fing an zu weinen. »Ich habe immerzu gehorcht, ob der Schuss fällt«, sagte der Zwölfjährige, »Eines Tages, Daniel, wirst du ihn vielleicht doch noch hören«, sagte sein Dad und umarmte ihn, ehe er den Pontiac startete.
    »Sagen wir Ketchum nicht Bescheid?«, fragte Danny.
    Was der Koch zu sagen hatte, mochte eines Tages durchaus wie ein Mantra klingen,

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