Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
sie vielleicht dort Angels Leiche finden, im ruhigeren Flachwasser.
    »Was für ein Mensch tritt sein eigenes Kind mit Flößerstiefeln ins Gesicht?«, fragte der verstörte Junge seinen Dad.
    »Keiner, den wir je wiedersehen werden«, antwortete Dominic. Das Sägewerk am Dead-Woman-Damm sah verlassen aus, was aber nur daran lag, dass Sonntag war.
    »Erzähl mir noch mal, warum man ihn Dead-Woman-Damm nennt«, sagte Danny zu seinem Vater.
    »Du weißt sehr genau, warum man ihn so nennt, Daniel.«
    »Ich weiß, warum du ihn nicht gern so nennst«, erwiderte der Junge rasch.
»Mom
war die tote Frau - das stimmt doch?«
    Der Koch parkte den 52er-Pontiac neben dem Ladesteg am Sägewerk. Dominic antwortete seinem Sohn nicht, doch der kannte die ganze Geschichte ohnehin - »sehr genau«, wie sein Dad gesagt hatte. Sowohl Jane als auch Ketchum hatten sie dem Jungen erzählt. Dead-Woman-Damm war nach seiner Mutter benannt worden, doch Danny gab keine Ruhe und wollte es immer wieder von seinem Vater hören - viel öfter jedenfalls, als der davon erzählen wollte.
    »Warum hat Ketchum einen weißen Finger? Was hat die Kettensäge damit zu tun?«, begann Danny. Er konnte einfach nicht still sein.
    »Ketchum hat mehr als einen weißen Finger, und du weißt, was die Kettensäge damit zu tun hat«, sagte sein Vater. »Die Vibration, erinnerst du dich?«
    »Ach ja, stimmt«, sagte der Junge.
    »Daniel, beruhige dich bitte. Lass uns das einfach hinter uns bringen und dann weiterfahren.«
    »Wohin
weiterfahren?«, rief der Zwölfjährige.
    »Daniel, bitte - ich bin genauso erledigt wie du«, sagte sein Vater. »Lass uns nach Angel suchen. Mal sehen, ob wir ihn finden, in Ordnung?«
    »Wegen Jane können wir nichts tun, oder?«, fragte Danny. »Leider nein«, sagte sein Dad.
    »Was wird Ketchum von uns halten?«, fragte der Junge.
    Das hätte Dominic auch gern gewusst. »Das reicht jetzt mit Ketchum.« Mehr fiel dem Koch nicht dazu ein. Ketchum wird wissen, was zu tun ist, hoffte sein alter Freund.
    Aber wie sollten sie Ketchum mitteilen, was passiert war? Sie konnten nicht bis neun Uhr morgens am Dead-Woman-Damm warten. Sie konnten nicht einmal halb so viel Zeit dafür aufwenden, Angel zu suchen!
    Alles hing davon ab, wann Constable Carl aufwachte und Janes Leiche entdeckte. Anfangs würde der Cowboy bestimmt denken, er selbst sei der Schuldige. Und im Kochhaus gab es sonntags nie Frühstück; bei Dominic bekam man sonntags ein frühes Abendessen, weiter nichts. Erst im Laufe des Nachmittags würden die Küchenhilfen im Kochhaus eintreffen. Wenn sie dann merkten, dass der Koch und sein Sohn weg waren, würden sie es nicht zwangsläufig dem Constable erzählen. (Nicht sofort jedenfalls.) Und für den Cowboy gäbe es auch keinen Grund, gleich nach Ketchum zu suchen.
    Dominic konnte sich mittlerweile sogar vorstellen, bis neun Uhr morgens am Dead-Woman-Damm auf Ketchum zu warten. Nach allem, was der Koch über Constable Carl wusste, sähe es dem Cowboy ähnlich, Janes Leiche zu verscharren und sie dann zu vergessen - aber nur bis er erfuhr, dass der Koch und sein Sohn verschwunden waren. Die meisten Menschen in Twisted River würden annehmen, Indianer-Jane hätte den Ort mit den beiden verlassen! Nur der Constable wüsste, wo Jane war, und unter den gegebenen Umständen (dem verdächtigen heimlichen Begräbnis) würde der Cowboy Janes Leiche wohl eher nicht wieder ausgraben, um zu beweisen, was er wusste.
    Oder war das Wunschdenken? Constable Carl würde nicht zögern, Indianer-Jane zu verscharren,
falls
er glaubte, sie getötet zu haben. Wunschdenken von Seiten des Kochs wäre die Hoffnung, dass der Cowboy in diesem Fall zerknirscht genug sein würde, um sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.
(Das
wäre echtes Wunschdenken - von einem reumütigen Constable Carl zu träumen, als habe der Cowboy eine Ahnung davon, was Reue ist!)
    Rechts von den Staubrettern und dem Überlauf, außerhalb der schwimmenden Sperre, strudelte das Wasser im Uhrzeigersinn gegen die Staumauer, ein paar vereinzelte Stämme (einige verirrte Rotkiefern und Lärchen zwischen lauter Fichten) kreisten im offenen Wasser. Dort konnten Danny und sein Dad keine Leiche entdecken. Wo das meiste Wasser durch den Überlauf floss, verkeilten sich an der Sperrvorrichtung die Stämme, doch in der dunklen Brühe war nichts Helleres zu entdecken.
    Vorsichtig überquerten der Koch und sein Sohn den Damm, der zum offenen Wasser auf der linken Seite der Sperre führte. Hier strudelten

Weitere Kostenlose Bücher