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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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waren, aber Nonnen waren keine darunter. Ketchum hatte wohl angenommen, die Michelangelo sei eine katholische Schule. (»Pass auf, dass sie dich keiner Gehirnwäsche unterziehen«, hatte er Danny geschrieben - wen er mit
sie
meinte, blieb unklar, obwohl das Wort wohl irgendwie mit
katholischem Zeug
zusammenhing.)
    Doch Dan war unbeeindruckt (und auch nicht ansatzweise beeinflusst) von dem, was an der Mickey katholisch war; im North End fiel ihm von Anfang an hauptsächlich alles Italienische auf. Das Michelangelo School Center war häufig Schauplatz der Massenversammlungen gewesen, bei denen italienische Einwanderer die amerikanische Staatsbürgerschaft bekamen. Die überfüllten Mietshäuser mit fließendem, wenn auch nur kaltem Wasser, in denen viele von Dannys Mitschülern wohnten, waren ursprünglich für irische Einwanderer erbaut worden, die vor den Italienern ins North End gekommen waren. Doch die Iren waren weggezogen, nach Dorchester und Roxbury, oder sie waren inzwischen »Southies«, Bewohner von South-Boston. Vor gar nicht langer Zeit hatte hier eine kleine Gemeinschaft portugiesischer Fischer gelebt - vielleicht waren noch ein oder zwei Familien in der Gegend um die Fleet Street übrig -, doch 1954, als Danny Baciagalupo und sein Dad eintrafen, war das North End fest in italienischer Hand.
    Der Koch und sein Sohn wurden nicht wie Fremde behandelt, jedenfalls nicht lange. Zu viele Verwandte wollten sich ihrer annehmen. Es gab zahllose Calogeros, massenhaft Saettas; alle möglichen Cousins und Nicht-richtig-Cousinen zählten die Baciagalupos »zur Familie«. Doch Dominic und Dan waren Familien nicht gewohnt, von Großfamilien ganz zu schweigen. Hatte es im Coos County nicht zu ihrer Überlebensstrategie gehört, reserviert zu sein? Die Italiener kannten »reserviert« nicht; entweder bekam man von ihnen
un abbraccio
(eine Umarmung) oder eine Tracht Prügel.
    Die älteren Leute versammelten sich immer noch an den Straßenecken oder in den Parks, wo nicht nur die Dialekte Neapels und Siziliens zu hören waren, sondern auch die der Abruzzen und Kalabriens. Bei warmem Wetter lebte Jung und Alt im Freien, auf den schmalen Straßen. Viele dieser Einwanderer waren um die Jahrhundertwende nach Amerika gekommen - nicht nur aus Neapel und Palermo, sondern auch aus zahllosen italienischen Dörfern. Das Straßenleben, das sie dort zurückgelassen hatten, lebte im Bostoner North End wieder auf - in Form von Obst- und Gemüseständen unter freiem Himmel, von kleinen Bäckereien und Konditoreien, von Fleischmärkten, von freitäglichen Schubkarren mit frischem Fisch auf der Cross und Salem Street, von Friseursalons und Schuhputzläden, von Sommerfesten und Festmahlen und in Form jener seltsamen religiösen Vereine, deren Fenster im Erdgeschoss mit den Gestalten von Schutzheiligen bemalt waren. Diese Heiligen zumindest fanden Dominic und Daniel Baciagalupo »merkwürdig«, auch wenn sie selbst seit 13 Jahren an der Frage scheiterten, was denn nun an ihnen genau italienisch
oder
katholisch war.
    Fairerweise müsste man sagen, dass Danny in Sachen
italianita
wohl nicht richtig »gescheitert« war - er
versuchte
immer noch, die reservierte Kühle aus dem Norden New Hampshires loszuwerden. Dominic hingegen würde diese Kühle wohl nie verlieren; er konnte zwar italienisch kochen, aber Italiener
sein
- das stand auf einem ganz anderen Blatt.
    Trotz Ketchums vermuteter Fehleinschätzung der Michelangelo als einer katholischen Schule war es unfair von Dominic, Ketchum ewig vorzuhalten, er habe Danny die Idee in den Kopf gesetzt, »wegzugehen« und ein Internat zu besuchen. Das fand jedenfalls sein Sohn. Dabei hatte Ketchum in einem seiner frühen Briefe an Danny - in dieser wirklich
mädchenhaften
Handschrift - bloß erwähnt, der klügste »Kerl«, den er je gekannt habe, sei auf eine Privatschule in New Hampshire gegangen, in Küstennähe. Ketchum meinte Exeter, das nicht sehr weit nördlich von Boston lag - und damals konnte man noch den Zug nehmen, »den guten alten >Boston & Maine<«, wie Ketchum sagte. Von Bostons North Station aus fuhr der >Boston & Maine< auch in den Norden New Hampshires. »Teufel, bestimmt kann man vom North End zu Fuß zur North Station gehen«, schrieb Ketchum an Dan. »Sogar ein Kerl, der hinkt, sollte das schaffen, schätze ich.« (Das Wort Kerl tauchte immer häufiger in Ketchums Vokabular auf - vielleicht lag es an Sixpacks Einfluss, allerdings hatte Jane es ebenfalls benutzt. Danny und sein Dad

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