Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
in derselben Nacht verschwunden waren. Wenn man den bestinformierten Klatschmäulern in dieser Ecke des Coos County - also entlang des gesamten Oberlaufs des Androscoggin - glaubte, war Indianer-Jane mit ihnen verschwunden.
    Laut Ketchum störte es Carl, dass die Leute
dachten,
Jane sei mit dem Koch durchgebrannt, und zwar mehr, als ihn die Möglichkeit zu irritieren schien, dass er seine Freundin mit einem unbekannten stumpfen Gegenstand erschlagen hatte. (Die Tatwaffe wurde nie gefunden.) Und zweifellos
glaubte
Carl, Jane getötet zu haben, da er sich ihrer Leiche entledigt hatte. (Auch die Leiche war nie wieder aufgetaucht.)
    Trotzdem musste sich Ketchum jedes Mal, wenn sich ihre Wege kreuzten, bohrende Fragen des Cowboys anhören. »Hast du
immer noch
nichts von Cookie gehört?«, wollte Carl unweigerlich von Ketchum wissen. »Ich dachte, ihr zwei wärt Freunde.«
    »Cookie hat nie viel gesagt«, antwortete Ketchum darauf regelmäßig. »Ist für mich keine Überraschung, dass er sich nicht bei mir meldet.«
    »Und was ist mit dem Jungen?«, fragte der Cowboy gelegentlich.
    »Was soll mit ihm sein? Danny ist bloß ein Kind«, antwortete
Pseudonym
Ketchum treuherzig. »Und Kinder schreiben nicht besonders viel, oder?«
    Doch Daniel Baciagalupo schrieb eine Menge - nicht nur an Ketchum. Schon zu Beginn ihrer Korrespondenz hatte er Ketchum anvertraut, er wolle Schriftsteller werden.
    »In dem Fall solltest du dich von dem ganzen katholischen Zeug weitgehend fernhalten«, hatte Ketchum erwidert, dessen Handschrift dem Jungen seltsam feminin vorkam. Danny hatte seinen Dad gefragt, ob seine Mom Ketchum auch ihre Handschrift beigebracht habe - neben dem Tanzen, vom Lesen ganz zu schweigen.
    »Das glaube ich nicht«, hatte Dominic nur gesagt.
    Das Rätsel von Ketchums Schönschrift blieb ungelöst, auch machte sich Dominic über die Handschrift seines alten Freundes offenbar keine großen Gedanken, jedenfalls nicht so viele wie sein Sohn. In den 13 Jahren hatte Danny Baciagalupo, der angehende Schriftsteller, mehr mit Ketchum korrespondiert als sein Vater. Die Briefe, die Ketchum und der Koch tauschten, waren meist kurz und sachlich. Suchte Constable Carl nach ihnen? Das war es, was Dominic jedes Mal wissen wollte.
    »Davon kannst du ausgehen« war im Grunde alles, was Ketchum dem Koch dazu mitteilte, allerdings hatte Ketchum in letzter Zeit mehr zu sagen. Er hatte Danny und Dominic einen identischen Brief geschickt, und dieser Brief war
maschinengeschrieben,
eine weitere Neuerung. »Es braut sich etwas zusammen«, begann der Brief. »Wir sollten reden.«
    Das war leichter gesagt als getan - Ketchum besaß kein Telefon. Er hatte sich angewöhnt, Dominic und den Jungen von einer Telefonzelle aus per R-Gespräch anzurufen; diese Telefonate endeten oft abrupt, wenn Ketchum verkündete, er friere sich dort oben die Eier ab. Zugegeben, es war kalt im Norden New Hampshires - und auch in Maine, wo Ketchum offenbar immer mehr Zeit zubrachte -, doch im Laufe der Jahre rief Ketchum fast nur noch in der kalten Jahreszeit an. (Vielleicht absichtlich, vielleicht fasste sich Ketchum gern kurz.)
    Weiter stand in Ketchums allererstem
maschinengeschriebenem
Brief an Danny und dessen Dad, der Cowboy habe eine »bedrohliche Andeutung« gemacht. Was nichts Neues war - Constable Carl
war
bedrohlich, und er machte
ständig
Andeutungen, wie Dominic und Danny bereits wussten -, doch diesmal war ausdrücklich das Wort »Kanada« gefallen. Laut Carl war der Vietnamkrieg schuld daran, dass sich die Beziehungen zwischen den usa und Kanada verschlechtert hatten. »In Sachen Zusammenarbeit sind die kanadischen Behörden einen feuchten Dreck wert«, hatte der Cowboy zu Ketchum gesagt, was der so interpretierte, dass Carl auf der anderen Seite der Grenze immer noch Erkundigungen anstellte. 13 Jahre lang hatte der Polizist geglaubt, der Koch und sein Sohn seien nach Toronto gezogen. Falls der Cowboy sie suchte, dann immerhin nicht in Boston - noch nicht. Doch jetzt hatte Ketchum geschrieben, dass sich etwas zusammenbraute.
     
    Ketchums früherer Rat an Danny - falls der Junge Schriftsteller werden wolle, solle er sich weitgehend von dem ganzen katholischen Zeug fernhalten - war womöglich ein Missverständnis seitens Ketchums. Die Michelangelo School, Dannys neue Schule im Bostoner North End, war eine Mittelschule, und zwar eine öffentliche. Die Kinder nannten die Schule »Mickey«, weil die Lehrer und Lehrerinnen irischer Abstammung, also »Micks«,

Weitere Kostenlose Bücher