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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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war.
    Sein Versprechen, häufig - an jedem nur möglichen Wochenende - nach Hause zu kommen, würde Danny nicht halten. Solange er in Exeter war, kam er nur selten nach Boston, höchstens an zwei Wochenenden im Schuljahr, und dann traf er Samstagabend auf dem Scollay Square seine Freunde aus Exeter, meist um sich die Stripperinnen im Old Howard anzusehen. Die Jugendlichen mussten sich für älter ausgeben, als sie waren, doch das ging leicht; an den meisten Abenden ließ man sie ein. Man musste den Damen gegenüber bloß respektvoll sein. An einem dieser Abende im Old Howard begegnete Danny zufällig seinem ehemaligen Englischlehrcr. Es war ein trauriger Abend. Für Mr. Leary mit seiner Vorliebe für Latein war es ein
Errare-su-manum-est-
Abend, ein »Irren ist menschlich«-Abend, sowohl für den Lehrer selbst wie auch für seinen Lieblingsschüler. Apropos Zeitsprung! Eines Tages, vermutete Daniel Baciagalupo, würde er über diesen tristen Abend (oder eine Variante davon) schreiben müssen.
    Seinen ersten Roman widmete er dem Iren. Wegen Mr. Learys Faible für alles Lateinische schrieb Danny:
     
    michael leary,
    in memoriam
     
    Von Mr. Leary hatte er zum ersten Mal die Formulierung
in medias res
gehört. Mr. Leary hatte Dannys Art zu schreiben mit den Worten gelobt, »als Leser« gefalle ihm, wie Danny seine Erzählungen häufig in der Mitte der Handlung statt an deren Anfang beginnen lasse.
    »Wie heißt so etwas - gibt es einen Begriff dafür?«, hatte der Junge unschuldig gefragt.
    Und Mr. Leary hatte geantwortet: »Ich nenne es
in medias res,
Lateinisch für >mitten in die Dinge<.«
    Nun, genau da befand er sich zu diesem Zeitpunkt seines Lebens gerade, dachte Daniel. Er hatte einen zweijährigen Sohn, den er aus unerfindlichen Gründen nicht nach seinem Vater benannt hatte, und er hatte seine Frau verloren und noch keine andere Frau kennengelernt. Außerdem mühte er sich mit seinem zweiten Roman ab, während der erste noch nicht erschienen war, und er stand kurz davor, für seinen ersten Job, der nichts mit Kochen und nichts mit Küche zu tun hatte, wieder nach Neuengland zu ziehen. Wenn das kein
in medias res
war, dachte Daniel Baciagalupo, was dann?
    Und, um beim Latein zu bleiben: Als Danny das erste Mal nach Exeter kam, begleitete Mr. Leary den Jungen
in loco parentis,
also »an Stelle der Eltern«.
    Vielleicht hatte er seinen Erstlingsroman deshalb Mr. Leary gewidmet. »Nicht deinem Dad?«, fragte Ketchum Danny. (Carmella sollte dem jungen Schriftsteller dieselbe Frage stellen.)
    »Vielleicht den nächsten«, antwortete er ihnen beiden. Sein Vater verlor nie ein Wort über die Widmung für Mr. Leary.
    Danny erhob sich von seinem Schreibtisch in Iowa City, um zuzuschauen, wie der Regen an den Fensterscheiben hinunterlief. Dann ging er zu dem schlafenden Joe und betrachtete ihn. So, wie er mit dem Kapitel vorankam, dachte der Schriftsteller, könnte er genauso gut ins Bett gehen. Doch er blieb meist lange auf. Wie sein Dad trank auch Daniel Baciagalupo nicht mehr; von dieser Angewohnheit hatte ihn Katie geheilt, eine Geschichte, an die er in einer Nacht, in der er beim Schreiben nicht vorankam, nur ungern dachte. Er wünschte sich auf einmal, Ketchum würde anrufen. (Hatte Ketchum nicht gesagt, sie müssten reden?)
    Immer wenn Ketchum von einer dieser fernen Telefonzellen anrief, schien die Zeit stillzustehen. Wenn Daniel von Ketchum hörte, hatte er mit seinen inzwischen 25 Jahren immer wieder das Gefühl, er wäre zwölf und würde Twisted River gerade verlassen.
    Eines Tages würde der Schriftsteller sich das eingestehen: Es war
kein
Zufall, dass der Holzfäller an diesem regnerischen Aprilabend anrief. Wie üblich meldete sich Ketchum per R-Gespräch, und Danny nahm den Anruf an. »Scheißschlammperiode«, sagte Ketchum. »Verdammt, wie geht's dir?«
    »Du bist jetzt also unter die
Tippsen
gegangen«, sagte Danny. »Deine hübsche Handschrift wird mir fehlen.«
    »Das war nie meine Handschrift«, klärte Ketchum ihn auf, »sondern Pams. Sixpack hat alle meine Briefe geschrieben.«
    »Warum?«, wollte Danny wissen.
    »Ich kann nicht schreiben!«, gestand Ketchum. »Ich kann auch nicht lesen - Sixpack hat mir alle eure Briefe vorgelesen, deine und die deines Dads.«
    Für Daniel Baciagalupo war das ein niederschmetternder Moment; in einer Liga, wie der junge Schriftsteller später urteilen würde, mit dem Augenblick, als er von seiner Frau verlassen wurde, aber mit ernsteren Konsequenzen. Danny dachte

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