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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Green: Remembering the Sixties,
die Erinnerungen des Schriftstellers Robert Stone. »Mitte der 60er Jahre hatte das Leben den Amerikanern so viel gegeben, dass wir alle von den Möglichkeiten ein wenig berauscht waren«, schrieb Stone. »Die Lage geriet rasch außer Kontrolle, ehe wir sie definieren konnten. Ich glaube, diejenigen von uns, denen die Veränderungen am meisten am Herzen lagen, die sich voll und ganz dafür einsetzten, wurden am stärksten betrogen.«
    Nun, auf Katie Callahan könnte das jedenfalls zutreffen, dachte Danny, als er diese Stelle las. Doch Robert Stone schrieb sein Buch nicht rechtzeitig, um Katie zu retten. Sie wollte nicht beschützt werden, und sie ließ sich nicht retten, aber was sie - neben ihrem gleichzeitig lasziven und scheinbar minderjährigen Aussehen - so anziehend und für Danny so überaus begehrenswert machte, war die Tatsache, dass Katie eine Rebellin war. (Außerdem hatte sie die Unruhe einer sexuellen Deserteurin; man wusste nie, was sie als Nächstes tun würde, weil Katie es selbst nicht wusste.)
     
    »Setzen Sie sich, Michael, setzen Sie sich -
essen
Sie etwas!«, hatte der alte Polcari Mr. Leary mehrmals gedrängt, doch der Ire war zu aufgeregt zum Essen. Er trank ein Bier, und dann ein, zwei Gläser Rotwein. Danny wusste: Der arme Mr. Leary konnte Carmella Del Popolo nicht ansehen, ohne an den spatenförmigen Ziegenbart eines Fauns zu denken, den sie beim Rasieren ihrer linken Achselhöhle möglicherweise ausgespart hatte. Und als Dominic in die Küche humpelte, um dem Englischlehrer eine Scheibe des von ihm so geschätzten sizilianischen Hackbratens zu holen, sah der angehende Schriftsteller Danny Baciagalupo, wie der alte Uhu das Hinken seines Dads mit ganz neuem, konsterniertem Blick verfolgte. Vielleicht hat ein
Bär
den linken Fuß des Kochs so zugerichtet!, dachte Mr. Leary wohl. Möglicherweise hatte es ja wirklich eine 150, 180 Kilo schwere Indianerin gegeben, deren Haare ihr bis über die Taille hingen!
    Mr. Leary hatte Exeter in noch einem Punkt belogen, nämlich bei der Neigung dieser Einwanderer zur
Übertreibung.
Hatte Mr. Leary nicht geschrieben, der junge Baciagalupo sei »anders als die anderen«? Als Schriftsteller war Daniel Baciagalupo ein geborener Übertreiber! Und das war er auch noch in jener regnerischen Nacht in Iowa City, obwohl Danny nicht nur furchtbar abgelenkt, sondern immer noch ein wenig in Katie Callahan verliebt war. (Danny begriff erst allmählich, warum sein Vater jene Farbe ein
tödliches
Blau genannt hatte.)
    Wie hieß es doch noch in jenem Song von Johnny Cash? Danny hatte ihn vielleicht sechs oder sieben Jahre zuvor erstmals gehört.
    Oh, I never got over those blue eyes,
    I see them everywhere.
    Noch mehr Ablenkungen, dachte der Schriftsteller. Man könnte meinen, er wolle sich unbedingt von jenem Abend distanzieren - sich von dem Abend mit dem braven Mr. Leary im Vicino di Napoli
physisch entfernen.
    Mr. Leary hatte ein drittes und viertes Glas Wein und den größten Teil des Hackbratens gebraucht, ehe er den Mut fand, den perlgrauen Briefumschlag aus der Innentasche seines Jacketts zu ziehen. Von der anderen Seite des Tisches aus sah Danny den dunkelroten Schriftzug; der Fünfzehnjährige kannte die Schulfarben von Exeter.
    »Und es sind
nur
Jungs, Dominic«, hatte Mr. Leary gesagt - die Worte klangen dem Schriftsteller noch immer in den Ohren. Mit einem Kopfrucken hatte der alte Englischlehrer auf das attraktive Calogero-Mädchen (Dannys ältere Cousine Elena) und ihre überreife Freundin Teresa DiMattia gedeutet. Diese Mädchen hingen wie Kletten an Danny, wenn er sich nach der Schule hinten in der Küche umzog und in seine schwarze Hilfskellnerhose schlüpfte.
    »Lasst Danny ein wenig Privatsphäre, Mädels«, sagte Tony Molinari dann zu ihnen, doch sie
baggerten
ihn dennoch unablässig an. Neben Mr. Leary hatte es Danny vielleicht auch diesen beiden Mädchen zu verdanken, dass sein Dad beschloss, ihn nach Exeter gehen zu lassen.
    Am schwersten fiel es ihm, über die Tränen in den Augen seines Vaters zu schreiben, als der sagte: »Nun, Daniel, wenn es, wie Michael sagt, eine gute Schule ist und wenn du unbedingt dorthin willst - tja, ich schätze, Carmella und ich könnten dich gelegentlich mal besuchen kommen, und du kommst gelegentlich am Wochenende heim nach Boston.« Bei den beiden
gelegentlich
hatte die Stimme seines Vaters gezittert. Daran erinnerte sich Daniel Baciagalupo in jener regnerischen Nacht in Iowa City,

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