Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Azzurra in der Hanover Street gegessen, wo früher auch Enrico Caruso gespeist hatte. Das betrat sie nun auch nicht mehr.
    Der Fischer hatte ihr erzählt, noch nie sei ein Seemann in der Hanover Street ausgeraubt worden und das werde auch immer so bleiben; selbst die besoffensten Matrosen könnten unbehelligt vom Hafen zum Old Howard und wieder zurückgehen. Neben den Striptease-Clubs gab es von den Matrosen frequentierte Spelunken und die Spielhallen am Scollay Square. (Das sollte sich alles ändern; sogar der Scollay Square würde verschwinden.) Doch die Welt, in der Carmella mit ihrem ertrunkenen Mann und ihrem ertrunkenen Sohn gelebt hatte - die Hanover Street von einem bis zum anderen Ende -, war für sie heilig und fluchbeladen zugleich.
    Sogar die räuberischen Möwen über dem Haymarket erinnerten sie daran, wie sie dort samstags mit dem kleinen Angelù an der Hand die Leute beobachtet hatte. Jetzt betrachtete sie skeptisch das Restaurant an der Fleet Street, das einst Stella's geheißen hatte; wenn das Vicino di Napoli abends einmal geschlossen hatte, aß sie dort gelegentlich mit Dominic. Sie aßen auch im Europeo, Dominic bestellte gewöhnlich die frittierten Calamari, aber nie nach New Yorker Art. (»Keine Tomatensauce - für mich nur Zitrone«, sagte der Koch immer.) Würde sie dort auch nicht mehr essen gehen können, wenn ihr Gamba weg war?, fragte sich Carmella.
    Auf jeden Fall würde sie in eine kleinere Wohnung umziehen müssen. Ob es dort im Sommer so heiß wurde, dass sie es wie die alten Damen in dem Mietshaus in der Charter Street machen würde? Die trugen Stühle aus ihren Wohnungen auf den Bürgersteig, weil es dort kühler war. Aus diesen Kaltwasserwohnungen hingen an den Heiligenfesten im Sommer Unmengen von Luftschlangen. Plötzlich musste Carmella daran denken, wie Angelù als kleiner Junge auf den Schultern seines Vaters gesessen hatte; die Hanover Street war wegen einer Prozession gesperrt worden. Es war das Fest des heiligen Rocco gewesen, erinnerte sich Carmella. Inzwischen sah sie sich nicht mehr gern Prozessionen an.
     
    1919 war Giuse Polcari ein junger Mann gewesen. Er erinnerte sich noch an die Melasseexplosion, bei der im North End 21 Menschen ums Leben gekommen waren, darunter der Vater eines Jungen, den er gekannt hatte. »Er wurde totgekochte in Flutwelle aus heiße Melasse!«, hatte der alte Joe Danny erzählt. Wer die Explosion hörte, dachte, die Deutschen kämen, obwohl der Krieg vorbei war, und dass der Bostoner Hafen bombardiert würde oder so was. »Ich hab ein ganzes Klavier in der Melasse treiben sehen!«, erzählte der alte Joe Polcari dem Jungen.
    In der Küche des Vicino di Napoli hing ein Schwarzweißfoto von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, auf dem die beiden eingewanderten Anarchisten mit Handschellen aneinandergefesselt waren. Sacco und Vanzetti wurden wegen des Mordes an dem Zahlmeister und dem Wachmann einer Schuhfabrik in South Braintree auf den elektrischen Stuhl geschickt. Der alte Polcari wusste während seiner letzten Tage, als er geistig nicht mehr so frisch war, nicht mehr alle Einzelheiten, aber an die Protestmärsche konnte er sich noch erinnern. »Das wurde Sacco und Vanzetti angehängte! Ein Polizeispitzel im Knast in der Charlestown Street hat sie verpfiffen, und der Staat Massachusetts hat dem Spitzel freie Fahrt zurück nach Italien spendierte«, hatte der alte Joe Danny erzählt. Es hatte eine Kundgebung für Sacco und Vanzetti gegeben, die in der Hanover Street im North End anfing und bis zur Tremont Street führte, wo die berittene Polizei die Demonstration aufgelöst hatte; es waren Tausende von Protestierenden gewesen, unter ihnen Joe Polcari.
    »Wenn du oder dein Sohn je ein Problem habt, Gamba, dann sag's mir«, hatte Giuse Polcari zu Dominic gesagt. »Ich kenne da eine paar Typen - die löse deine Problem für dich.«
    Der alte Polcari sprach von der Camorra, der neapolitanischen Variante der Mafia - nicht dass Dominic den Unterschied ganz verstanden hätte. Wenn er als Kind über die Stränge schlug, nannte Nunzi ihn einen
camorrista.
Dominic hatte aber den Eindruck, dass das North End, wo man Mafia und Camorra die Schwarze Hand nannte, weitgehend von der Mafia kontrolliert war.
    Als Dominic Paul Polcari erzählte, dass der Cowboy eventuell nach ihm suchen würde, sagte Paul: »Wenn mein Dad noch lebte, würde er seine Camorra-Kumpel anrufen, aber ich hab da keine Kontakte.«
    »Ich kenne mich mit der Mafia auch nicht aus«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher