Letzte Nacht in Twisted River
töten, aber sie würde mit ansehen müssen, wie der Koch umgebracht wurde. »Das lasse ich nicht zu«, hatte Dominic ihr deutlich gemacht. »Wenn dieses Arschloch aufkreuzt, verschwinde ich allein.«
»Wieso könnt du und Danny nicht einfach zur Polizei gehen?«, hatte Carmella ihn gefragt. »Das mit Jane war schließlich ein
Unfall!
Kannst du der Polizei nicht klarmachen, dass Carl verrückt und gefährlich ist?«
Jemandem, der nicht aus Coos County war, ließ sich das nur schwer erklären. Erstens, der Cowboy
war
die Polizei - oder das, was sich dort oben Polizei schimpfte. Zweitens war es kein Verbrechen, verrückt und gefährlich zu sein - nirgendwo, aber schon gar nicht im Norden New Hampshires. Auch war es höchstens ein kleineres Vergehen, dass Carl Janes Leiche verscharrt oder sich ihrer sonst irgendwie entledigt hatte, ohne jemandem etwas zu sagen. Fest stand: Nicht der Cowboy hatte sie getötet, sondern Danny. Wenn der Koch damals einfach die Wahrheit gesagt hätte,
irgendwem,
vielleicht wären sie dann damit durchgekommen. (Dominic hätte auch einfach mit Daniel zurück nach Twisted River fahren können. Der Koch hätte einfach bluffen können, wie es Ketchum und Danny damals von ihm verlangt hatten.)
Jetzt war es natürlich zu spät, der Zug war abgefahren. Als der Koch Carmella das alles erzählt hatte, war es noch früh genug in ihrer Beziehung gewesen, dass sie die Bedingungen akzeptiert hatte. Jetzt, wo sie ihn mehr als nur ein wenig liebte, bereute sie es. Ihn nicht zu begleiten, wenn Dominic aufbrechen müsste, würde ihr sehr schwerfallen. Und natürlich wusste Dominic, wie sehr ihm Carmella fehlen würde - mehr, als ihm Indianer-Jane gefehlt hatte. Vielleicht nicht so sehr, wie Rosie ihm und Ketchum auch heute noch fehlte, doch der Koch wusste, dass Carmella etwas Besonderes war. Und je größer seine Liebe zu Carmella wurde, desto entschiedener war Dominic dagegen, dass sie mitkam.
Während Carmella im Bett lag, dachte sie an die Orte im North End, die sie nicht mehr aufsuchen konnte, einmal, weil sie mit dem Fischer dort gewesen war, und dann - noch schmerzlicher -, weil sie bestimmte Ecken des Viertels mit bestimmten Dingen verband, die sie mit Angelù unternommen hatte. Wohin würde sie nicht mehr gehen können, nachdem Dominic (ihr lieber Gamba) sie verlassen hatte?, fragte sich die Witwe Del Popolo.
Nachdem Angelù ertrunken war, ging Carmella nie wieder auf der Parmenter Street spazieren - genauer gesagt, nicht mehr in der Nähe der ehemaligen Cushman School. Die Grundschule, auf der Angelù die ersten Schuljahre verbracht hatte, war abgerissen worden. (1955, vielleicht auch 1956, Carmella wusste es nicht mehr.) Auf dem Grundstück sollte eines Tages eine Bibliothek erbaut werden, doch Carmella würde an dieser Bibliothek nie vorbeigehen.
Weil sie schon immer als Kellnerin gearbeitet hatte - und auch schon immer im Vicino di Napoli -, hatte sie vormittags meist frei. Wenn die Kinder mit der Cushman School Ausflüge ins Viertel unternahmen, hatte Carmella stets angeboten, sie zu begleiten, um die Lehrer zu entlasten. Aus diesem Grund ging sie auch nicht mehr in die Nähe der Old North Church, wo man ihr und Angelus Schulklasse den Kirchturm gezeigt hatte, den Nachkommen von Paul Revere 1912 restaurieren ließen. Es war eine Episkopalkirche - die Carmella als Katholikin sonst nicht besucht hätte -, und sie war berühmt (hauptsächlich wegen der Rolle, die sie bei Paul Reveres Ritt gespielt hatte). Unter Glas in einem Schrein verwahrt, lagen außerdem Backsteine aus einer Gefängniszelle in England, in der amerikanische Pilgerväter eingesperrt gewesen waren.
Aus zwei Gründen konnte Carmella nicht mehr an dem Mariners House am North Square vorbeigehen, was unpraktisch für sie war, denn es lag ganz in der Nähe des Vicino di Napoli. Doch es war das Wahrzeichen der Boston Port and Seamen's Society, die sich »dem Dienst an den Seefahrern« verschrieben hatte. Angelus Klasse hatte das Mariners House besucht, aber bei diesem Schulausflug war Carmella nicht mitgekommen, schließlich hatte sie einen Fischer an die See verloren.
Es war schlicht albern, wie selbst ganz banale Erinnerungen an den Fischer und an Angelù sie heimsuchten, doch so war es nun einmal. Sie mochte das Caffe Vittoria sehr, mied aber den Raum mit den Fotos des Boxers Rocky Marciano, weil sowohl der Fischer als auch Angelù den Schwergewichtschampion bewundert hatten. Und sie hatte mit Ehemann und Sohn im Grotta
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