Letzte Rache: Thriller (German Edition)
sollte. Dann schritt er zum Haupteingang hinaus und nahm die Westminster Bridge Road auf der Suche nach Proviant.
Ein schmuddeliges Esslokal, das Taxifahrer und andere Angestellte der Schattenwirtschaft beköstigte, gestattete dem Inspector, mit einem Spiegelei-Brötchen, einem Marmelade-Donut und einem doppelten Espresso frische Energie zu tanken. Eine halbe Stunde später schlenderte er wieder ins Krankenhaus, einen kleinen Milchkaffee für Joyce in der Hand. Nachdem er weitere zwei Minuten auf den Fahrstuhl gewartet hatte, kam er auf dem dritten Stock an. Als er Sandra Groves’ Zimmer betrat, sah er, dass Joyce vornüber auf dem Bett zusammengesackt war. Er trat näher und konnte ein kleines Loch erkennen, wo der Junge in den Hinterkopf geschossen worden war. Der Gestank wies darauf hin, dass es zu einer Darmentleerung gekommen war, und zu seinen Füßen hatte sich eine Lache mit Urin gebildet.
Der Inspector stöhnte auf. »Herr im Himmel, was für eine verfluchte Scheiße.« Da seine Knie weich wurden, musste er sich zwingen, näher ans Bett zu treten. Während er darauf achtete, nichts durcheinanderzubringen, blickte er in das zerschossene Gesicht von Sandra Groves, das auf einem Kissen voll schwarzer Blutflecken lag. Von mehreren Kugeln getroffen, war sie im Grunde nicht mehr als Mensch erkennbar. Carlyles Blick folgte den Blutspritzern und blieb an einem Klumpen aus Haut und Haaren hängen, der an der Wand über dem Bett klebte. Ihm war schlecht.
»Es tut mir leid«, murmelte er, mehr um seinetwillen als aus einem andern Grund. Er holte ein paar Mal tief Luft, schluckte die säuerliche Flüssigkeit in seiner Kehle hinunter und wartete darauf, dass sein Brechreiz nachließ. Er musterte schnell den restlichen Tatort. Die Apparate, an die Groves immer noch angeschlossen war, standen still neben ihremBett, und auf den Bildschirmen war nichts zu sehen. Der Mörder war so vorsichtig gewesen, sie abzustellen, damit sie keine Alarmtöne von sich gaben, wenn Sandras lebenswichtige Organe ihre Funktion einstellten. Eine kleine Selbstladepistole lag neben Joyce’ Kopf auf dem Bett. Carlyle holte sein Handy heraus und rief den wachhabenden Sergeant in Charing Cross an. Diese Angelegenheit würde ihnen nicht zugewiesen, aber wenn Carlyle die Ermittlungen nicht von vornherein in die richtigen Bahnen lenkte, war ihm klar, dass er einen noch größeren Teil der kommenden Nacht hier verbringen würde, als ihm ohnehin bevorstand.
Weil er wahrnahm, dass sich hinter ihm etwas bewegte, wirbelte er herum und sah sich der Stationsschwester gegenüber.
»Was in Gottes Namen …?« Sie versuchte an ihm vorbeizuschauen, woraufhin er sich ein Stück zur Seite schob, um ihr mit diesem halbherzigen Versuch die Sicht zu blockieren.
Abgelenkt wurden sie von dieser Pattsituation durch eine Bewegung in dem Bett, das neben der Tür stand. Ein Kopf tauchte unter der Bettdecke auf, gefolgt von einem knochigen Finger, der auf den Inspector zeigte. »Er war es! Er war es!«, schrie die Patientin durch ihren medikamenteninduzierten Nebel. » Er hat das getan!«
Die Schwester schaute Carlyle argwöhnisch an; sie wusste nicht, ob sie an Ort und Stelle verharren oder weglaufen und Hilfe holen sollte. Sie wippte auf den Fußballen und machte den Eindruck, gleich davonstürzen zu wollen, aber die glasigen, unkoordinierten Augen seiner Anklägerin ließen sie zögern. Die Frau war derart neben der Spur, dass es erstaunlich war, wie sie überhaupt etwas von den Schüssen wahrgenommen haben wollte. Carlyle hob eine Hand hoch und sprach präzise Anweisungen in sein Handy, laut genug, damit die Stationsschwester mitbekam, dass er die Situation unter Kontrolle hatte.
Er beendete das Gespräch und wandte den Blick nicht von der Schwester ab. Sie war eine stämmige, nüchtern wirkende Blondine und vielleicht zehn Jahre jünger als er selbst. Keine schlecht aussehende Frau, aber man sah ihr deutlich an, dass sie auf dem besten Wege war, von dem täglichen Trott langsam zerdrückt zu werden. Auf Aufregungen wie diese hier konnte sie verzichten. »Die Polizei …«, begann Carlyle. »In ein paar Minuten werden noch mehr Polizisten zusammen mit einem Team von Technikern und einem Gerichtsmediziner hier sein – die übliche Bande.«
»Ja«, erwiderte die Schwester; ihre Stimme schwankte nur minimal.
»Sorgen Sie dafür, dass sie direkt in dieses Zimmer gebracht werden.«
Die Frau nickte.
»Ich möchte nicht«, fuhr Carlyle fort, »dass in der
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