Letzte Rache: Thriller (German Edition)
man auf den ersten Blick sah, war fest in seinem Gehirn verankert. Es war ein Gefühl, das er schon oft erfahren hatte. Er hasste die Vorstellung, verarscht zu werden – ob sich das nun Berufsstolz oder persönlicher Eitelkeit verdankte –, und er war einfach noch nicht gewillt, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.
Als er in der Botschaft auftauchte, hatte er mit Freude zur Kenntnis genommen, dass er bei seiner Ankunft weder mit Überraschung noch mit Missfallen begrüßt wurde. Nachdem er einer äußerst rudimentären Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden war, hatte man ihn allein zum Vorzimmer des Botschafters hochgeschickt, wo ihm eine sehr hübsche, sehr jung aussehende Sekretärin mitgeteilt hatte, dass Orb ihn in zwei Minuten empfangen würde. Kaum neunzig Sekunden später saß er vor dem Schreibtisch des Botschafters, während sein Gastgeber die relativen Vorzüge von Fortnum’s Smoky Earl Grey und ihrer Piccadilly-Mischung erwog. Nachdem Orb sich für Letzteren entschieden hatte, überraschte er Carlyle damit, dass er aufstand und aus seinem Büro verschwand, um den Tee selbst zuzubereiten. Als er schließlich zurückkam, hätte Carlyles Meinung von Chile und den Chilenen nicht höher sein können.
Nach einem Probierschluck setzte Orb seine Tasse wieder auf die Untertasse in der Mitte seines ansonsten sehr aufgeräumten Schreibtischs und schaute Carlyle an. »Wie schön, Sie wiederzusehen, Inspector«, sagte er und lächelte. »Erzählen Sie mir doch, wie es mit Ihren Ermittlungen vorangeht.«
Carlyle machte eine unbestimmte Bewegung mit einer Hand, während er mit der anderen die Untertasse festhielt. »Man muss diesen Dingen ihren Lauf lassen.«
»Das muss man allerdings.« Orb faltete die Hände auf dem Schreibtisch zusammen, als wollte er gleich beten. »Und was ist mit dem Ehemann passiert, wenn ich fragen darf?«
Weil Carlyle genug von seinem Balanceakt hatte, stellte er seine Tasse mit der Untertasse auf den Teppich neben seinem Stuhl. »Er ist vor einen Lieferwagen gelaufen«, sagte er und richtete sich auf.
»Ein Unfall?«
»Selbstmord.«
»Oh?« Orb machte einen verblüfften Eindruck. »Aber er war Ihr Hauptverdächtiger.«
»Ja.«
»War es das also?«, fragte Orb. »Ist der Fall jetzt abgeschlossen?«
Carlyle veränderte seine Sitzhaltung. »Vielleicht.«
»Vielleicht?«, wiederholte Orb. »Zieren Sie sich nicht, Inspector. Sie sind bestimmt nicht nur wegen einer Tasse Tee hier, so nett das auch ist.«
Carlyle grinste. »Vielleicht.«
»Also …« Das Lächeln des Botschafters verblasste ein wenig, womit er zu erkennen gab, dass weder seine Zeit noch seine Geduld grenzenlos waren, obwohl sein herzlicher Empfang aufrichtig war. »Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Der Herr, mit dem ich Sie in der City Hall habe zusammen stehen sehen … bei dem Empfang, als wir einander vorgestellt wurden?«
Orb dachte einen Moment darüber nach. »Sie meinen den Bürgermeister, Mr Holyrod?«
»Nein. Den anderen Mann. Ungefähr Ihre Größe, Mitte dreißig, hatte einen Bart – ein gut aussehender Mann, sonnengebräunt.«
»Ach ja«, sagte Orb. »Matias Gori.«
»Wer ist er?«
»Er arbeitet hier an der Botschaft als einer unserer Militärattachés. Hat er irgendetwas mit dieser Sache zu tun?«
Carlyle ging nicht auf die Frage ein. »Ich habe mich immer gefragt«, sinnierte er, »was ein Militärattaché eigentlich macht.«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Orb hob seine Tasse an die Lippen und nippte wieder an seinem Tee; es machte ihm nichts aus, noch ein bisschen darauf zu warten, dass der Polizist zur Sache kam. »Ich bin nur der Botschafter, Inspector, deswegen ist meine Kenntnis seiner Funktionen auch sehr lückenhaft. Ich glaube, die meisten Leute würden wahrscheinlich annehmen, dass ›Militärattaché‹ nur die höfliche Bezeichnung für einen Spion ist. Aber normalerweise ist es viel banaler.«
»Nicht jeder kann James Bond sein, vermute ich.«
»Nein, besonders heute nicht. Man kann sich über die meisten Dinge im Internet informieren, angenommen man hat Lust, einige Zeit mit dem Recherchieren zu verbringen. Es ist eine erstaunliche Erfindung – meine Enkel können sich einfach nicht vorstellen, wie wir jemals ohne sie auskommen konnten.«
»Nein«, stimmte Carlyle ihm zu. »Was bleibt für einen Militärattaché dann heutzutage noch übrig? Sind Spione im Grunde überflüssig geworden?«
»Mehr oder weniger«, sagte Orb, »soweit ich sehe. Mit Sicherheit sind sie
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