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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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würde James schon bestattet haben, vor elf Monaten, vielleicht am Strand jener neu entdeckten Insel, vielleicht im Wasser, wie es sich für einen Seemann ziemte. Wie konnte sie den Jungen schreiben, wenn sie nicht wußte, wie es sich zugetragen hatte? Sandwich und Stephens hatten kaum etwas gesagt. Gemeinplätze. Verschleiernde Phrasendrescherei für die Zeitungen. Die würden morgen voll davon sein. Was wirklich geschehen war, blieb vorerst ein Rätsel.
    Sie holte Feder und Papier aus der Stube und machte sich an einen kurzen Brief an ihren ältesten Sohn. Es mußte eine Nachricht für ihn daliegen, wenn sein Schiff in den Hafen von Portsmouth einlief. Es war nicht schwer. Sie schrieb, was sie wußte. Jamie hatte keine Phantasie und keine Angst. Wenn ihn irgend etwas beunruhigte, würde er sich schlicht an sie wenden, ohne Umwege, ohne Zögern.
    Der Brief an Nat war schwieriger. Sie begann stets wieder von vorn, auf einem sauberen Blatt Papier. Denk doch erst nach, spornte sie sich an, mach irgendwo auf einer Rückseite einen Entwurf, liste die Dinge auf, die in den Brief hineinmüssen, ruhig, es ist noch Zeit.
    Dein Vater ist gestorben gefallen verunglückt umgekommen – es gab viel zu viele Wörter, wie konnte man da je das richtige auswählen? Der Brief mußte mit der ersten Post mit, in Nats Seefahrtsschule würde die Nachricht heute oder morgen bekannt werden. Es mußte sein.
    Weihnachten war er zu Hause gewesen. Er war kräftiger geworden, breiter. Die Haare trug er kurz. Er war im letzten Lehrjahr und gehörte zu den Großen. Viel hatte er nicht erzählt. Sie hatten in Barking Weihnachten gefeiert. Nat hatte seinen alten Geigenlehrer besucht. Ehe sie sich's versah, winkte sie schon wieder der Postkutsche nach.
    Komm für ein, zwei Wochen nach Hause, wenn Dir das lieber ist. Die Schulleitung wird es schon verstehen, wenn sie weiß, warum. Oma ist jetzt hier. Ich beabsichtige, in den kommenden Tagen bei Lord Sandwich vorzusprechen. Er liest jetzt die mit eingetroffenen Journale, und ich hoffe, daß er mir danach mehr erzählen kann. Dann kann ich Dir auch besser erklären, was passiert ist. Bring Deine Geige mit, wenn Du beschließt zu kommen.
    Sie las, was sie geschrieben hatte. Nicht an ihm zerren, dachte sie, er ist fünfzehn, er geht in die Welt hinaus. Oder nicht, er konnte natürlich auch zu Hause bleiben und Geige studieren. Nein, so durfte sie nicht denken. Neutral wollte sie sein. Nat sollte selbst über seine Zukunft entscheiden können. Aus Loyalität zu seinem Vater würde er die Ausbildung gewiß abschließen wollen.
    Mary kam mit dem Nachttopf in der Hand die Treppe herabgepoltert. Elizabeth fuhr hoch und machte ihr die Tür zur Waschküche auf.
    »Das bin ich gewohnt«, sagte Mary und ließ offen, ob sich das nun aufs Wasserlassen in einen Nachttopf oder dessen Leerung bezog. Elizabeth blickte auf den dünnen grauen Zopf auf dem Rücken ihrer Mutter. Es war noch dunkel draußen.
    Sie saßen am bullernden Herd und tranken Tee. Charlotte war kurz mit Benny dagewesen; sein Besuch bei ihr wurde verlängert, nun gingen sie zu den Enten ans Wasser, mach schön winke, winke zu Mama, zu Oma, bis morgen –
    »Morgen«, echote das Kind, und das Gartentor schlug zu.
    »Was hast du vor?« fragte Mary.
    »Nichts. Ich habe den Jungen geschrieben. Ich werde zu Sandwich müssen. Herausbekommen, was passiert ist. Und wie. Danach Briefe schreiben. An diese Schwestern in Yorkshire. An Walker. Was hast du gemacht, als mein Vater starb?«
    Mary schaute weg. Ihr Mund stand ein bißchen offen, vielleicht, weil sie keine Zähne mehr hatte.
    »Schade, daß es nicht friert, da könnte ich ein Gläschen Gin trinken. Das ist gut gegen den Frost. Ich koche heute für dich, darüber brauchst du dir also keine Gedanken zu machen.«
    »Mutter, antworte doch!«
    Mary seufzte und rieb sich über das eingefallene Kinn. »Nicht zu vergleichen, Kind. Wir hatten ein normales Begräbnis. Danach haben wir im Lokal gesessen und was getrunken. Was gegessen. Du hast auf meinem Schoß gesessen, daran erinnere ich mich noch genau. Du warst zwei. Dein Vater war ein gewöhnlicher Mann. Du bist mit einer bekannten Persönlichkeit verheiratet. Sie werden dir alles wegnehmen, wenn du nicht aufpaßt. Alle seine Briefe und was weiß ich was für Texte werden in die Zeitung kommen, und ein jeder wird eine Meinung dazu haben. Wo bleibst du dann? Sein Porträt hängt bei diesem reichen Kauz über dem Kamin. Und was sollst du dir ansehen? Wart's

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