Letzte Reise
nur ab, du wirst es erleben. Alle wissen genau, wie er war, was er wollte, was er sagte und wie er aussah. Und wie sie erst über gemeinsame Erlebnisse posaunen und sich als Freunde brüsten werden. Alles Humbug! Wenn du das ernst nimmst, weißt du am Ende selbst nicht mehr, was du denkst, da fängst du vor lauter Elend an, alle diese Geschichten zu glauben, und verlierst deine eigenen Erinnerungen.«
Elizabeth hörte ihr andächtig zu.
»Sie haben aber doch auch ihre eigenen Erinnerungen! Sie vermissen einen anderen. Den Kapitän.«
»Eben«, sagte Mary. »Und dieser Kapitän kann dir gestohlen bleiben. Ha, da geht es schon los!«
Jane Nelson klopfte ans Küchenfenster. Sie hatte keine Haube auf. Ganz außer Atem trat sie in die Küche, eine Zeitung an den flachen Busen gedrückt. Ihr spitzes Gesicht war rot gefleckt, und als sie Elizabeth ansah, schossen ihr Tränen in die Augen.
»Banks' Haushälterin hat es mir erzählt«, sagte sie. »Ich habe gleich eine Zeitung gekauft. Hier.« Sie breitete die London Gazette auf dem Tisch aus.
»Das ist meine Mutter«, sagte Elizabeth. »Mutter, das ist Jane. Ihr Mann fährt mit James.«
Jane wischte sich mit dem Ärmel die Tränen weg. »Er ist eigentlich Gärtner und arbeitet in den Gärten von Kew. Er war noch nie auf See.«
Mary trug die Tassen weg, damit der Tisch ganz frei war für die Zeitung. »Gärtner«, murmelte sie, »ein Gärtner auf See. Im Weglaufen sind sie gut.«
Elizabeth starrte auf den gedruckten Text, konnte die Buchstaben aber nicht scharf bekommen. Jane las ihr vor, Berichte in hehrer Sprache, ging es um James? Sie bekam keinen Zugang zu den Formulierungen. Ein heldenhafter Kampf für die Fahne gegen die unberechenbaren Wilden, die den Kapitän, den Wohltäter der Menschheit, wie einen Gott verehrt, dann aber heimtückisch angegriffen hätten. Näheres würde folgen. Der König habe geweint, als er die Todesnachricht vernommen habe. Die Admiralität trauere. Die Akademie fasse eine Gedenkfeier ins Auge. Ein schwarzer Tag für die Wissenschaft, für das Land, für den Fortschritt.
Es wollte kein Ende nehmen. Jane zitierte und zitierte mit ihrer scharfen Stimme. Elizabeth faßte nach ihrer Hand.
»Laß«, sagte sie. »Wir wissen Bescheid. Danke für die Zeitung, lieb von dir. Erzählst du es den Kindern?«
Jane nickte. »Heute nachmittag. Sonst hören sie es zu Hause. Sie werden weinen und Angst bekommen. Ihre Väter, du weißt schon. Und es wird ihnen so leid tun für dich!« Sie schluchzte erneut.
»Port, der geht eigentlich den ganzen Tag«, sagte Mary. »Da geht es einem immer gleich besser. Leg mal die Zeitung weg, Kind, ich brauche ein bißchen Platz.« Sie klimperte mit Karaffe und Gläsern, während Elizabeth die Zeitung zusammenlegte und in die Stube brachte. Dort blieb sie einen Moment ganz still vor dem Fenster stehen.
Sie drückte die Stirn gegen das kühle Glas. Ich muß, dachte sie. Zuerst muß ich wissen, wie es passiert ist. Alles. Mein Rücken ist kerzengerade. Es macht mir gar nichts. Da ist jemand tot, der nichts mit mir zu tun hat. Die mich trösten kommen, sind trauriger als ich. Nachher kommt die Schneiderin, da muß ich das Kleid anprobieren. Sie arbeitet wie eine Besessene, morgen ist das Kleid fertig. Dann ziehe ich es an, wenn ich Sandwich aufsuche. Sie gehen vorsichtig mit mir um, aber ich zerbreche nicht, ich empfinde einfach gar nichts.
Sie schlug in einem wiegenden Rhythmus mit dem Kopf gegen die Scheibe, erschrak über das dumpfe Geräusch und wandte sich ab. Die Weste aus dem tahitianischen Stoff hatte sie heute nacht an den Tischrand geschoben. Sie hob sie hoch und wickelte sie fest in die Zeitung. Mit dem Paket im Arm schaute sie sich im Zimmer um. Nein, nicht oben in den Schrank, nicht hinter die Bücher. Eigentlich wollte sie in den Garten, eine Grube unter der Quitte graben, darin die Weste und die Zeitung bestatten. Erde drüber, Spaten wegstellen, Hände waschen, fertig.
In der Ecke am Fenster stand die Kiste, in der sie die verschiedenen Tagebuchversionen von der zweiten Reise aufbewahrte. Der Deckel ging schwer auf, sie mußte Kraft aufwenden. Sie nahm die Papiere aus der Kiste und legte das Paket auf den Boden. Dann deckte sie es mit den großen Seiten zu, die die regelmäßige Handschrift von James, die Bleistiftstriche, die sie selbst darin angebracht hatte, und die Korrekturen in roter Tinte von Douglas zierten. Der Deckel fiel zu.
[ … ] Es ist Nacht, Frances. Mir ist nichts anzumerken,
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