Letzte Reise
verhandelte und stritt. Kräfte sparen.
Das Dienstmädchen kam mit der Post herein. Briefe, Briefe, Briefe. Douglas drückte in dezenten, geschliffenen Worten sein Beileid aus und bot seine Hilfe an. James' Schwester Margaret beklagte in nahezu unleserlich wüster Handschrift den Verlust des berühmten Bruders, den sie kaum gekannt habe, so kurz nach dem Tod ihres Vaters, und es sei ja so kalt, und sie und ihre Schwester hofften, daß das Testament bald abgewickelt werde, denn sie lebten in Armut – Elizabeth legte den Brief ermüdet zur Seite.
Da war auch eine kurze Nachricht von Nat: Wir mußten alle in die Aula kommen, und der Lehrer erzählte von Kapitän Cook. Wir haben gesungen und eine Schweigeminute eingelegt. Danach spielte ich auf der Trompete. Ich war nicht nervös. Bei der Ansprache schon. Ich dachte, daß mich alle anstarrten, und mir wurde ganz heiß. Jamie ist auf See, er weiß noch nichts, und das tut ihnen leid. Mama, ich glaube nicht, daß ich nach Hause komme, bald ist die Abschlußprüfung, und ich bleibe lieber hier, dann komme ich im Sommer zu Dir. Papas Hut, den ich aufhatte, als Schnee lag, ist der bei Dir? Würdest Du ihn mir bitte schicken? Grüße an Oma (ganz liebe) und Benny. Schreibst Du mir bald wieder?
Der Notar schrieb formelle Beileidsworte und lud sie, gemeinsam mit ihrem ›gesetzlichen Vertreter oder Berater‹, zu einer Unterredung über James' Letzten Willen ein. Berater, dachte sie, Vertreter? Bin ich etwa nicht recht bei Sinnen, kann ich mich nicht selbst vertreten, kann ich seine Sprache nicht verstehen? So ein aufgeblasener Laffe, der wird sich noch wundern, wenn ich mit meinen Papieren komme, wenn sich erweist, daß ich lesen kann.
In der Stube war es still und kalt. Sie ordnete die Korrespondenz: den Brief vom Notar zum Testament, Douglas auf den Beileidsstapel. Den mußte sie demnächst abarbeiten, sich eine nüchterne und bündige Antwort einfallen lassen. Kommt schon noch, dachte sie, nicht jetzt. Sie zögerte mit dem Brief aus Yorkshire in der Hand und legte ihn schließlich auf den von Douglas. Keine Eile. Nats Brief mußte auf den Tisch. Den Hut suchen. Antworten.
In dem Schrank, in den sie die kleinen Stapel legte, lagen Berge von Papieren von James. Flüchtig ließ sie den Blick darüber wandern. Seine Briefwechsel mit Sandwich, mit Douglas, mit Walker, Banks, Forster. Die Listen von Besatzungsmitgliedern, Proviant, Instrumenten, Tieren. Unmengen von Papier eines lebenden Mannes mit Plänen, Gedanken, Ideen. Sie würde alles durchsehen müssen, Seite für Seite, Zeile für Zeile. Die Briefe an sie hatte sie gesondert in eine Schublade gelegt; sie zog sie auf und sah den letzten, beunruhigenden Brief mit der entgleisenden Handschrift und dem nicht existenten Datum. Geheim, dachte sie, das darf niemand sehen. Niemals. Einen Augenblick lang war sie versucht, alles zu vernichten, weg mit den belastenden, verwirrenden Informationen, so daß sie nur ihre eigene Erinnerung haben würde, in der sie sich James bewahren konnte, wie er gewesen war. Sie schob die Lade zu und schloß den Schrank. Sie hatte keine Ahnung, wie er gewesen war. Monatelang, wenn nicht gar jahrelang würde sie alle diese Zeugnisse studieren müssen, nächtelang nachdenken, lange Spaziergänge machen müssen, um dahinterzukommen, wer ihr Mann war. Gewesen war.
Es hat sich nichts geändert, dachte sie, er ist nach wie vor fort, so wie er die vergangenen dreieinhalb Jahre fort war, es sollte sich nichts verändert haben, und doch hat eine einzige Nachricht, ein einziger Besuch dafür gesorgt, daß die Stube nicht mehr wiederzuerkennen ist, daß der Schrank vollkommen neue Gedanken in mir wachruft und ich mich selbst nicht mehr wiedererkenne. Als Banks hier vor einigen Tagen saß, mit Solander wie einem treuen Hund an seiner Seite, benahm ich mich, wie ich mich noch nie benommen hatte. Ich nickte bestätigend zu all ihren Lobliedern, meine Zustimmung zu ihrer Elegie kam mir ungemein honett über die Lippen – man sah mir an, daß mir die Verehrung meines Gatten guttat. Wohltäter der Menschheit. Zierde des Königreichs. Vorreiter der Wissenschaft. Guter Hirte für seine Männer. Weise, bedächtig, uneigennützig. Der Verlust ist eine offene Wunde.
Es nahm kein Ende. Solander preßte ein Taschentuch zwischen seinen Wurstfingern zusammen. Und sie nickte immer schön und lächelte im richtigen Moment ein schwaches Lächeln. Keine Träne, kein ungebührliches Wort. Die perfekte ›Witwe eines
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