Letzte Reise
ging sie auf Hartland zu. Sie legte kurz die Hände auf die seinen und setzte sich in den Sessel ihm gegenüber.
Stille. Der Alte nickte ihr zu. Er lächelte nicht. Sie nickte zurück und legte den Kopf an die Lehne.
Das Mädchen kämpfte mit der Tür und kam, das Teetablett auf einer Hand balancierend, herein. Flink schenkte sie ein, stellte die Tassen auf Beistelltischchen neben den Sesseln, plapperte etwas davon, wo sie die Teekanne hinstellen würde, dann könnten sie sich selbst nachschenken, Vorsicht, noch sehr heiß – und verschwand wieder.
Ein Scheit im Kamin knackte, Funken sprangen in hohem Bogen heraus und senkten sich auf den Fußboden, wo sie nacheinander erloschen. Hartland griff zu seiner heruntergerutschten Mütze und wischte sich damit die Wangen trocken. Er nahm die Partitur auf.
»Wenn ich hierin lese, höre ich ihn spielen.« Seine Stimme war leise, aber kräftig, und paßte nicht zu dem abgezehrten Körper. »Er hatte einen so schönen, warmen Geigenton. Wo Ihr jetzt sitzt, hat er gesessen, diesen Sommer. Er war glücklich, weil Ihr einverstanden wart, daß er die Seefahrt aufgibt. Er freute sich auf das, was danach kommen würde. Aber zuerst die Verpflichtungen, sagte er. Die Reise war ihm ein leichtes, weil er wußte, daß es zum letztenmal war. Er fühlte sich stark. Mir schien, er war glücklich.«
Hartland streichelte die Partitur. »Ich habe noch haargenau vor mir, wie er lächelte. Haargenau. Er hatte ein Lächeln, das den Tag gut machte.«
Das Knistern der Flammen. Das Schweigen. Elizabeth hatte die Augen geschlossen. Sie sah Elly vor sich, in einem Kinderstühlchen. Wie alt? Ein Jahr, höchstens anderthalb. Sie schmierte in einem Holzschälchen mit Brei herum, es war in der Taverne in Barking. Morgens, dunkel noch, Geruch von abgestandenem Bier. Ein Gast war da, obgleich noch nicht geöffnet war, ein Reisender vielleicht, der dort übernachtet hatte und nun frühstückte. E T starrte fasziniert auf das Kind. Elly schaute ihn an, und ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem runden Gesichtchen. Der Mann fingerte in seiner Westentasche nach einer Münze, die er mit seiner Serviette, in die er zuvor hineinspuckte, polierte. Wie Mondlicht blinkte das Silber. Dann erhob sich der Mann und legte die Münze vor das Mädchen hin. Elizabeth, die hinter dem Schanktisch mit Gläsern zugange war, hatte aufgeschaut.
»Ihr Lächeln läßt sieben Jahre Trauer verblassen«, hatte der Mann gesagt und sich wieder an seinen Tisch gesetzt. Elizabeth hatte plötzlich Angst bekommen. Ach ja, sie war auch noch schwanger gewesen, mit Joseph; James war gerade wieder auf die Reise gegangen. So war das. Sie hatte Elly aus dem hohen Stühlchen gehoben und nach hinten in die Küche getragen. Das Kind hatte die Münze fest in der klebrigen kleinen Faust gehalten. Keine Ahnung, wo sie geblieben war. Ihre Kinder besaßen ein Lächeln, das andere glücklich machte. Sie mußte sich dieses Lächeln merken, durfte das Bild von dem lächelnden Kind niemals aus dem Gedächtnis verlieren, damit sie es jederzeit wachrufen konnte, genau wie Hartland mit seinem betagten Hirn. Alles in Erinnerung behalten. Wie Nat in der Küche auf einem Stuhl saß, um sich die Haare schneiden zu lassen. Im schmalen Nacken eine kleine Rinne. Sie hatte seine Haare noch, in ein Papier gewickelt, gedankenlos irgendwo aufbewahrt.
»Erstaunlich, wie der neue Verlust den alten wachrüttelt«, sagte Hartland, als hätte er Zugang zu ihren Gedanken. »Als Eure Tochter beigesetzt wurde, habe ich Euch angesehen. Ich wollte Euch trösten, wie ich es auch jetzt möchte. Aber Trost ist eigentlich etwas für unversehrte Menschen, die nicht mehr als eine kleine Beule abbekommen haben. Ihr könnt keinen Trost brauchen, glaube ich.«
Er ruhte kurz aus und rieb über die Noten auf seinen Knien. Dicke, dunkelblaue Adern auf seinem Handrücken. Nat hatte Angst gehabt, daß das Gezurre an den Seilen seinen Händen schaden könnte.
»Ihr nehmt es mir doch hoffentlich nicht übel, daß ich mich Euch gegenüber ausspreche?« fragte Hartland mit einem dringlichen Ton in der Stimme. Sie schüttelte den Kopf und blieb ruhig sitzen.
»Unser Kummer ist nicht von Belang. Er beschäftigt uns zwar jede einzelne Stunde, er nagt an uns und erschöpft uns, aber im Grunde ist er Nebensache. Es geht nicht um uns, die Hinterbliebenen. Ihr denkt vielleicht: Warum ist Nathaniel nicht hier, bei uns? Warum war ihm nicht die Zeit vergönnt, sein Talent auszukosten? Das
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