Letzte Reise
angegriffen und schwach. Sie hatte sich für ihren Zustand geschämt, hatte ihren Verlust nicht zeigen können, weil er schändlich war. Jetzt aber stellte sie ihr bleiches Gesicht mit den tiefen Furchen jedem Passanten zur Schau. In dem verwitterten kleinen Spiegel über ihrem Waschtisch hatte sie sich die dunkelgrauen Ringe um ihre Augen angesehen. Sie hatte versucht, das flachgedrückte, leblose Haar in Fasson zu bringen, hatte den Kamm aber rasch beiseite gelegt. Es kümmerte sie nicht, wie sie aussah und wie man über sie dachte. Sie war zehn Jahre älter als damals, eine vierzigjährige Frau war anders als eine dreißigjährige – aber das ist es nicht, überlegte sie, während sie gegen den Wind ausschritt, es schien eher, daß sie jetzt eine Gleichgültigkeit beschlichen hatte, von der sie als Dreißigjährige noch keine Vorstellung gehabt hatte. Daß man so losgelöst sein konnte von den Menschen um einen herum, die für einen sorgten und kochten und sich Gedanken über einen machten, daß man so inständig gar nichts mehr wollen konnte, wodurch mit einem Mal allerlei seltsame Impulse zum Zuge kamen und man sich selbst nicht mehr wiedererkannte; eine unendliche Müdigkeit war es, die zwar schon mit der Zeit, aber nicht wirklich mit dem Alter zusammenhing.
Ohne Zögern bog sie von der einen in die andere Seitenstraße ein, bis sie bei dem Organisten vor der Tür stand. Sie klopfte an. Als eine junge Frau mit keckem Kopftuch öffnete, wurde ihr bewußt, daß sie noch das Bild von der alten Haushälterin in sich hatte. Es verwirrte sie. Auch hier waren zehn Jahre verstrichen. Sie schaute wohl eigenartig, denn das Mädchen fragte, ob sie hier auch richtig sei. Es komme nie Besuch, sagte sie.
»Früher schon«, sagte Elizabeth, »da kam ich. Herr Hartland hat mir einen so freundlichen Brief geschrieben. Ich bin Elizabeth Cook.«
Das Mädchen schlug die Hand vor den Mund und zog die Tür weiter auf.
»Natürlich, kommt herein. Da wird er sich aber freuen! Meine Mutter arbeitete früher hier, sie hat mir von Euch erzählt, voriges Jahr noch, als der Kapitän – oh, es tut mir leid, gnädige Frau, darf ich Euch mein Beileid ausdrücken. Ich habe den Brief gestern gebracht, folgt mir doch bitte, wie schön, daß Ihr gleich gekommen seid, der gnädige Herr sitzt am Kamin. Er schläft sehr wenig, er wird Euch mit Freuden empfangen.«
Der kurze, breite Korridor mit den schwarzen und weißen Fliesen. Die Haken an der Wand, wo Nat seine Jacke aufhängte, wenn er zur Geigenstunde kam. Die Tür aus ungestrichenem Eichenholz, die anders aufging, als man erwartete. Das Mädchen zog sie auf, tat einen Schritt zurück und ließ Elizabeth in das Musikzimmer eintreten.
Der alte Mann saß mit einer Decke über den Knien am Kamin und starrte ins Leere.
»Seht doch, Herr Hartland, Besuch für Euch! Die gnädige Frau ist gekommen! Ich werde Tee machen, setzt Euch doch, hier.«
Sie huschte an Elizabeth vorbei ins Zimmer, schüttelte in dem Sessel am Kamin ein Kissen auf, berührte kurz die mürben Knie Hartlands und schien sich nur mit Mühe bremsen zu können, den Gast ins Zimmer hereinzuziehen.
Elizabeth blieb stehen und schaute sich um. An den Wänden hingen Instrumente: eine Geige mit Bogen, daneben eine weit größere Geige. Das ist eine Bratsche, dachte sie. Eine Trompete, Blockflöten, das mattglänzende, eingerollte Rohr eines Horns. An der Wand gegenüber dem Kamin, weitest möglich vom Feuer entfernt, stand ein Cembalo, offen, als sei gerade darauf gespielt worden.
Sie sah den Schrank mit den Partituren, Stapel über Stapel, neben- und aufeinander. Vor dem Schrank stand ein Tisch, auf dem noch mehr Notenblätter lagen und Papier, Feder und Tinte. Langsam kehrte ihr Blick zum Kaminfeuer zurück. Das Mädchen war längst aus dem Zimmer gehuscht und klapperte in der Küche mit Geschirr.
Hartland hatte eine Partitur auf dem Schoß. Knochige Hände mit langen Fingern umklammerten das Papier. »Corelli«, las sie. Die Blätter sahen fleckig aus und waren an den Rändern eingerissen. Sie trat einen Schritt vor. Hartland hob das Gesicht zu ihr auf. Seine Wangen glänzten von Tränen. Er weinte lautlos, mit offenem Mund. Gelbgraue Haarsträhnen hingen ihm um den Hals. Seine Mütze war vom Kopf gerutscht und lag auf seiner Schulter.
Elizabeth schwieg. Sie war ganz ruhig, konnte keinerlei Unbehagen bei sich ausmachen. Sie blickte in die alten, weinenden Augen und spürte, wie ihre eigenen Augen brannten. Ganz langsam
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