Letzte Reise
denke ich auch, mit Verbitterung. Dennoch ist das unerheblich. Er ist dagewesen, er hat existiert. Daran sollten wir denken. Unser Leben ist durch seine Anwesenheit unendlich bereichert worden. Es klingt wie ein Fluch, aber so versuche ich zu denken. Dankbar, daß es ihn gab, daß ich auf meine alten Tage sein Spiel, seine Stimme habe hören können. Es schmerzt. Aber der Gedanke daran, wie er wirklich war, ist das einzig Wichtige.«
Er weinte nicht mehr. Der Tee dampfte nicht mehr.
»Ich fürchte so sehr«, flüsterte Elizabeth, »ich fürchte so sehr, daß er verzweifelt war, in Todesangst, von allem und allen verlassen. Daß er nach uns geschrien hat. Wenn ich an ihn denken möchte, schiebt sich immer davor, wie er starb. Schwarze Wellen, Sturm. Zersplitterndes Holz. Dann kann ich nicht weiter. Ich erreiche ihn nicht, sein Tod steht im Weg. Was er empfand, als er starb, steht im Weg. Ich kann es nicht.«
Hartland beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Die Noten glitten zu Boden.
»Wer mit Musik lebt, hat ein gutes Leben. So kurz es auch sein mag. Nat ist nie allein gewesen, nie verloren. Er hatte immer Musik im Kopf. Auch im Augenblick seines Todes. Er war nicht verlassen. Er war erfüllt vom Schönsten, das er kannte, aufgehoben im einzigen, das Erlösung bieten kann.«
Durstig fühlte sie sich, und es war, als gebe er ihr klares Wasser zu trinken. Was er da sagt, dachte sie, das muß ich bewahren, sonst ist es weg, unerreichbar geworden. Der Kummer ist nicht von Belang, sagt er. Wer mit Musik stirbt, ist nicht verloren, sagt er. Sie atmete tief aus und spürte, wie die Erschöpfung von ihren Schultern glitt.
»Ich möchte etwas für Euch spielen«, sagte Hartland und stemmte sich aus seinem Sessel hoch. Elizabeth blieb sitzen und schaute zu, wie der alte Mann zum Cembalo schlurfte.
»Ein Lied. Eine Arie.« Er setzte sich schräg auf das Bänkchen, das vor dem Instrument stand, und stützte sich mit einem Arm auf dem Notenständer ab, während er zu ihr herübersah.
»Bach. Der Größte. Dreißig Variationen hat er zu diesem Lied geschrieben. Es ist ein vollkommenes Werk, das alles umfaßt. Nathaniel liebte es. Wir haben es noch zusammen einstudiert, als er zum letztenmal hier war.«
Hartland setzte sich gerade vor das Klavier und blickte auf die Ebenholztasten. »Nat zu Ehren. Um seiner zu gedenken«, sagte er vor sich hin.
Dann hob er den Kopf und hielt die Hände über die Klaviatur. Es erklang noch kein einziger Ton, doch das Stück hatte schon begonnen. Langsam entfaltete sich das Lied über einer ruhig fortschreitenden Baßlinie, die die dicken Saiten mit hörbarem Schnalzen erzittern ließ. Ist das eine Klage, dachte Elizabeth, ein Klagelied? Die absteigenden Melodielinien ließen das vermuten, doch immer wieder wurden die Seufzer in der festen Umarmung der unter ihnen liegenden Akkorde aufgefangen. Ein Frage- und Antwortspiel. Eine Stimme, die sich aussprach, die Stellung nahm, die schlicht und einfach erzählte, wie es war.
Der Organist wiederholte den ersten Teil und verzierte die Melodie mit Trillern und Girlanden aus perlenden Tönen, zwischen denen die Erinnerung an das ursprüngliche Lied aufklang. Ein flüsterleiser Akkord bildete einen vorläufigen Abschluß. Im zweiten Teil war sogar die Baßlinie von Verzweiflung geprägt. Darüber füllte die Melodie den straffen Taktrhythmus bis zum Bersten mit kläglichen Schluchzern und Ausrufen. Alles sank, fiel, stürzte nieder.
Dann geschah das Wunder. Aus der Tiefe schritt die nun von regelmäßigen, sicheren Fönen gebildete Melodie stetig nach oben, gestützt von dem fest mitkletternden Baß. Elizabeth kam es vor, als fliege ein Fenster auf und gebe den Blick auf eine unendliche Weite frei. Dort könnte sie gehen, mit erhobenem Kopf und ohne Tränen, in dem Bewußtsein, daß ihr Sohn diese Musik geliebt hatte. Bei jedem Schritt würde sie ihn vermissen. Sie würde diesen Schmerz ertragen können, weil dieses Lied bestand.
Hartland saß nach dem feierlichen Schluß minutenlang still an dem Instrument. Draußen vor den Fenstern hatte die Dämmerung eingesetzt. Das Holz im Kamin flammte nicht mehr, sondern schwelte leise vor sich hin. Ganz langsam, in ihrem eigenen Tempo, begann sich Elizabeth der Zeit außerhalb des Musikzimmers zu fügen. Schließlich erhob sie sich, drückte dem Organisten wortlos die Hand und stieß die Tür zum Korridor auf.
Kapitän King war der Hartnäckigste unter den zurückgekehrten Besatzungsmitgliedern. Die
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