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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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hatte er die Kinder, mich im Kopf, und tröstete ihn das? Sprach er von der Zukunft, und wenn ja, wie? Ich werde es nie erfahren, mag ich diesen treuherzigen Mann neben mir auch noch so sehr unter Druck setzen.
    »Würdest du mir vom Ende erzählen, Isaac? Was du gesehen hast?«
    Isaac drückte ihren Arm fest an seine Rippen. »Du quälst dich. Warum willst du alles so genau wissen? Es ist doch schon schlimm genug, daß es passiert ist!«
    »Es muß sein. Ich möchte darüber nachdenken können. Ich möchte es vor mir sehen. Die Tatsachen. Das habe ich von James gelernt.«
    Isaac ließ ihren Arm los und kratzte sich am Kopf. »Ich weiß nicht, ob das gut für dich ist. Ich bin besorgt, weißt du. Du siehst so schlecht aus. Du ißt nichts. Du scheinst meilenweit entfernt zu sein.«
    »Niemand kann mir erzählen, wie Nat umkam«, flüsterte sie, »da bin ich ganz meiner Phantasie ausgeliefert. Aber du warst dabei, als James starb. Du kannst mich vor meiner Phantasie behüten.«
    Isaac legte den Arm um ihre Schultern. »Ich habe nichts gesehen«, sagte er. »Ich war einfach an Bord, in der Kajüte. Verpackte die Karten und die Skizzen in Kartons, weil wir auslaufen wollten. Ich hörte zwar, daß jemand zu James kam und sie zusammen die Treppe hinaufgingen. Aber daß das etwas mit dem gestohlenen Beiboot zu tun hatte, realisierte ich nicht. James fluchte. Doch ich habe dem keine Aufmerksamkeit geschenkt, weil so oft etwas war. Später hörte ich, wie es knallte, Schüsse natürlich. Da hatte ich, ehrlich gesagt, gerade eine Karte von der amerikanischen Küste in der Hand und dachte, daß sie recht gelungen war. Erst als das Geschrei und die Lauferei an Deck nicht aufhörten, bin ich nach oben gegangen. Und da war schon alles vorbei. Ich habe nicht gespürt, daß etwas Schlimmes passierte. Ich malte mir die Publikation der Karten aus. Wie stolz ich sein würde. Dafür schäme ich mich.«
    »Aber wie es weiterging, später, das kannst du mir doch erzählen?«
    »Ein einziges Chaos. Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Sie wollten Rache nehmen, die Insel in Trümmer schießen, sie schickten sich schon an, die Kanonen auszurichten. Die Bucht abriegeln und alle niedermetzeln, das ganze Dorf in Brand setzen, das schwebte ihnen vor. Gierke hatte große Mühe, diese Rachsucht ein wenig zu beschwichtigen. Ich sehe ihn noch an Bord kommen, keuchend, bleich, die Wangen am oberen Rand hochrot. Plötzlich war er unser Kapitän geworden. Warum noch mehr Tote, sagte er, damit ist nichts gewonnen. Er trug natürlich selbst den Tod in sich, deshalb blieb er so gelassen. Alles hat er nicht verhindern können, denn der Trupp, der den Mast von der Insel holte, hat mindestens zehn Eingeborene ermordet, und der größte Teil des Dorfes ging in Flammen auf. King ließ sich mit einer weißen Fahne in der Hand an die Küste rudern, um im Namen von Gierke, dem es so schlechtging, daß er kaum an Deck bleiben konnte, zu verhandeln. Das Hin und Her dauerte noch eine ganze Woche, bis wir James bestatten konnten.«
    »Bevor sie seinen Leichnam aushändigten, meinst du?«
    Isaac bückte sich, um die Schnalle seines Schuhs fester anzuziehen. Mit rotem Kopf richtete er sich wieder auf. »Die sterblichen Überreste, ja. Am einundzwanzigsten fand die Zeremonie statt. Abends, gegen sechs. An Deck.«
    Wieder dieser idiotische Ausdruck. Was veranlaßte Isaac dazu? Es wäre naheliegender gewesen, daß er ›James‹ gesagt hätte oder notfalls ›die Leiche‹.
    »Sie hatten die gesamte Bucht für tabu erklärt, das bedeutet, daß niemand dorthin kommen darf. Totenstill war es. Kein Windhauch. Ich sah plötzlich, wie drohend die hohen Berge dort aufragten. Wir kamen allesamt an Deck, jeder in seiner besten Uniform.«
    Wo sind die Kleidungsstücke eigentlich, dachte sie, die blaue Jacke, der Hut? Mindestens zwei Uniformen hatte er mit. In einer davon werden sie ihn beigesetzt haben, aber die andere? Eine dritte Jacke hing oben im Schrank, für die Zeit, wenn er nach Hause kam.
    »Kapitän Clerke ließ mich vortreten. Weil ich ein Angehöriger bin. Die Trommler hatten ihre Instrumente mit Tüchern bedeckt und spielten ganz langsam. Der gedämpfte Klang war unheilverkündend, als bahne sich unabwendbar etwas Entsetzliches an. Dort hinter der Reling ist die See, dachte ich, dahinein muß er, gleich. Ich war eigentlich vollkommen betäubt. Daß das alles tatsächlich geschah, überstieg meine Vorstellungskraft. Clerke hatte nicht genug Luft, um die

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