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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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einem reglosen Mädchen.
    Isaac hatte eine Karte auf dem Küchentisch ausgebreitet. O nein, dachte sie, ich will diese Zeugnisse der See nicht im Haus haben, das ist hier keine Kajüte.
    »Schau mal«, sagte Isaac. Es war ein Stadtplan von London und Umgebung. Die Themse schlängelte sich durch die Mitte wie eine Ader auf einer Altmännerhand.
    »Clapham!« Isaac zeigte mit einem Bleistift darauf. »Am Ende der Hauptstraße, du blickst über Felder und Weiden, und doch sind die Geschäfte ganz in der Nähe. Ein großes Haus, in gutem Zustand. Wir können gleich einziehen.«
    Siebenundvierzig bin ich jetzt, dachte sie. Zeit, diesen Warteraum zu verlassen, endlich einmal irgendwo zu wohnen, wo Wasser nicht die Hauptrolle spielt. Warum sollte ich hierbleiben? Weil James hier Abschied nahm. Weil Nat hier auf seiner Geige spielte. Weil Hugh mit mir im Garten saß. Weil Elly …
    »Ich habe mich erkundigt«, sagte Isaac. »Nach Schulen und dergleichen. Es gibt dort eine fabelhafte Schule für unseren kleinen Professor. Ganz in der Nähe. Sie bereiten auf die Universität vor.«
    Als hätte man ihn gerufen, kam Benny in dem Moment herein. Er schaute neugierig auf die Karte, fragte aber nichts.
    »Wir ziehen um, Ben«, sagte Isaac. »Deine Mutter stellt einen Hausdiener ein. Jede Woche Empfang für Freunde und Bekannte. Mit Fasanenschenkeln und Kerbelsuppe.«
    »Kommt Charlotte mit?« fragte der Junge. »Und Jamie?« Er blickte forschend in das Gesicht seiner Mutter.
    Jetzt, dachte Elizabeth, jetzt muß ich ihm zeigen, daß Veränderungen erlaubt sind. »Isaac kommt mit, und Jamie wohnt bei uns, wenn er nicht auf See ist. Charlotte wird sich um den Haushalt kümmern. Und du gehst in Clapham zur Schule.«
    Isaac zog einen Zettel aus der Tasche und las vor. »Philosophie, Literaturwissenschaft, Logik, Eloquenz! Das wirst du dort alles lernen. Latein. Geometrie. Du kannst nach dem Sommer anfangen.«
    Benny nickte. Sein Gesicht verriet keinerlei Regung, doch er blieb dicht an den Tisch gedrückt stehen.
    »Jamie wird ein Pferd kaufen«, fuhr Isaac fort. »Ein Stück die Straße hinunter ist ein Stall. Wenn er zu Hause ist, kann er reiten. Du bekommst ein großes Zimmer mit Bücherschrank. Das Eßzimmer ist ein Saal! Hinten im Garten stehen Pflaumenbäume. Es wird großartig, du wirst sehen.«
    Die Quitte, dachte Elizabeth. Die bleibt hier. Isaac muß mir helfen. Der Dachboden. All der Plunder von James. Die mottenzerfressenen Federmäntel, die Körbe aus Schilf und Baumrinde, die Speere, die Ruder – was sollen wir damit? Vielleicht können wir alles in ein Zimmer stopfen, ganz oben im Haus, und die Tür abschließen. Um die Papiere kümmere ich mich selbst. Die kommen in die Kiste mit Geheimnissen. Der Nippes ist für die Öffentlichkeit. Diese blöde Gedenkmünze aus Gold. Das alberne sogenannte Familienwappen. Diese Rarität lege ich in eine Vitrine im Eßzimmer, zusammen mit den Reisebüchern. Soll ich das Buch auf den Seiten mit Kings Schilderung von James' tragischem Tod aufschlagen? Um zu erfahren, wie es wirklich war, muß man in die Kiste vordringen. Der Schlüssel hängt unter meinem Rock. Ich kann dem Geheimnis nicht entgehen, selbst wenn ich alles in den Fluß würfe. Es ist in mir.
    Nach dem Besuch des Pelzhändlers hatte Elizabeth erwogen, eine Kutsche nach Chalfont zu nehmen und Clerkes Brief Hugh Palliser vorzulegen, als habe sich nichts geändert. Sie hatte sich Zeit genommen, über dieses Vorhaben nachzudenken und ihre Beweggründe zu untersuchen. Ich bin erschrocken, hatte sie gedacht, ich möchte beruhigt werden. Aber das geht gar nicht, die Tatsachen selbst sind beunruhigend, und niemand kann sie ändern.
    Sie war über den gewundenen Pfad zwischen den Wiesen gelaufen, allein. Ich möchte seine Hilfe, hatte sie gedacht. Er soll mit mir reden, damit ich weiß, was ich zu tun habe. Die Admiralität informieren? Isaac aushorchen? Den ganzen Zirkus der Heldenverehrung sprengen? Vielleicht weiß ich sehr wohl, was ich tun möchte, und suche nur nach einer Ausrede, um bei Hugh sein zu können. Sie schüttelte den Kopf und biß sich auf die Lippe. Sonnenlicht glitzerte in den Pfützen auf dem Weg. Sie sprang von einem Grasbüschel zum nächsten, damit ihre Schuhe trocken blieben. Das nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
    Sie hatte den Brief von Gierke weggeräumt, ohne mit jemandem darüber zu sprechen. Der Bericht über die dritte Reise kam heraus, eine prächtige Ausgabe in drei Bänden, die binnen

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